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Ein Buch mit zwei Seiten
Der Konferenz-Bericht des
weltbekannten Psychologen Daniel Goleman "Dialog mit dem Dalai Lama:
Wie wir destruktive Emotionen überwinden können" ist im
September beim Hanser Verlag mit der Erstauflage von 100 000 Hardcover-Exemplaren
herausgekommen. Das Werk, das an ein wissenschaftlich und psychologisch
interessiertes Breitenpublikum gerichtet ist, markiert eine neue Stufe
der Etablierung des Buddhismus im Westen. Es zeigt die weitgehende Begegnung
zwischen moderner Wissenschaft und Buddhismus.
Das anschauliche neue Hauptwerk des Wissenschaftsjournalisten und Psychologen Daniel Goleman resümiert gut verständlich die fünftägige achte Konferenz "Mind and Life" vom März 2000. Der Dalai Lama traf dort mit insgesamt elf führenden Psychologen, Neurowissenschaftlern, buddhistischen Mönchen, einem westlichen "Philosophen des Geistes" und seinen in tibetisch-buddhistischer Philosophie im Westen promovierten Dolmetschern zusammen. Das Thema waren die destruktiven Emotionen (wie Hass, Angst, Trauer und Schuld) und die Frage ihrer Überwindbarkeit, sowie die "umfassendere Zielstellung, nämlich zu erkunden, was Buddhismus und moderne Wissenschaft zum Verstehen des Geistes beitragen können". Regelmäßig eingeflochten in Golemans Bericht über die Dialoge und Vorträge der Konferenz sind Darstellungen ausgewählter buddhistischer Lehren und Meditationsmethoden. Diese seit 1987 stattfindenden Konferenzen dienen dem Dalai Lama und primär Wissenschaftlern, "die sich mit Geist und Leben befassen", als regelmäßige Austauschforen. Aus ihnen sind einige konkrete Forschungsprojekte hervorgegangen. Das Buch zeigt, wie weit ein der deutschsprachigen Öffentlichkeit bisher relativ unbekannter, obwohl sehr fruchtbarer Dialog zwischen moderner Wissenschaft und Buddhismus bereits gediehen ist. Ein Grund dafür ist eine häufige Übereinstimmung in grundlegenden Erkenntnissen. Auch wird durch Resümes der modernsten neurowissenschaftlichen Untersuchungen an buddhistischen Meditationsmeistern und gewöhnlichen Meditierenden im Laboratorium die emotional heilende Effektivität buddhistischer Praxisformen nachgewiesen. Während der Buddhismus klar von der Überwindbarkeit der destruktiven Emotionen ausgeht, ist in dieser Frage die wissenschaftlich-abendländische Sicht gespalten. Der Neurowissenschaftler und Psychologe Richard Davidson illustriert die "neurale Plastizität", die Fähigkeit des Gehirns, sich nach Maßgabe der Erfahrung umzugestalten. Sie wird nach seiner Ansicht in absehbarer Zeit zu "einer Umgestaltung der gesamten Psychologie" führen. Er hat sich als Direktor eines neurowissenschaftlichen Laboratoriums an der Universität von Wisconsin mit den positiven Auswirkungen buddhistischer Geistesschulung auf das Gehirn befasst. Der führende Beobachter des Ausdruckes der Emotionen im Gesicht, der Psychologe Paul Ekman, hält - ausgehend von Charles Darwin - bestimmte Emotionen für unveränderlich zum Menschen gehörig, weil sie dessen Überleben in der Evolution gesichert hätten. Der populäre Autor, tibetische Buddhist und Wissenschaftstheoretiker Alan Wallace wirkt neben Daniel Goleman als der philosophische Moderator der Konferenz. Der tibetisch-buddhistische Mönch und Biologe Matthieu Ricard referiert die Sicht seiner Tradition des "Großen Fahrzeuges" Mahâyâna zu den Emotionen. Das nach unserer Zeitwende im alten Indien entstandene Mahâyâna umfasst heute die zentralasiatischen und fernöstlichen Formen des Buddhismus. Owen Flanagan, Philosophieprofessor und "Philosoph des Geistes", gibt die westliche Sicht zu den destruktiven Emotionen und das im Abendland traditionell eher negative Bild vom menschlichen Wesen wieder. Der Tibeter Thubten Jinpa, Chefdolmetscher des Dalai Lama, Religionswissenschaftler und hoher Gelehrter des tibetischen Buddhismus, präsentiert (zusammen mit Wallace) die detaillierte Aufstellung der "geistigen Hemmnisse" Kleshas aus der mahâyâna-buddhistischen Scholastik des "Abhidharma". Die Psychologin Jeanne Tsai gibt einen Überblick zum kulturspezifischen Erleben und Ausdrücken von Emotionen, abhängig von den unterschiedlichen, kulturabhängigen Selbstbildern. Der Psychologe Mark Greenberg erklärt vor allem neue Lernprogramme an Schulen, die heute dazu eingesetzt werden, um positive emotionale Reaktionen und soziale Fähigkeiten zu fördern. Der tibetische Buddhist und bekannte Kognitionswissenschaftler Francisco Varela stellt sein Modell der nichtbegrifflichen und begrifflichen Anteile einer Wahrnehmung vor, das besagtem buddhistischen System des Abhidharma vergleichbar ist. Auch der einzige zur Konferenz eingeladene Vertreter des frühen Buddhismus "Theravâda" (Lehre der Ältesten), nämlich der thailändische Gelehrte und Mönch Somchai Kusalacitto, geht bei seinen Buddhismus-Erklärungen vom etwas älteren "Abhidhamma" des Theravâda aus. Die andere Seite des Buches ist eine konsistent einseitige Auswahl, was die dargestellten Lehren und untersuchten Meditationsformen des Buddhismus betrifft. Diese Auswahl wird nicht transparent gemacht. So ist etwa der "Abhidhamma" als "Besondere Lehre" mit der "Analyse des Geistes und seiner Zusammenhänge" (die buddhistische Scholastik, Erkenntnistheorie und Psychologie) regelmäßig Thema. Dabei wird nicht gesagt, dass aus wissenschaftlicher Sicht diese Interpretationen der Worte des "Erwachten" (Buddha) aus späteren Zeiten stammen und von den ältesten vollständig überlieferten Sammlungen der "Lehrreden" (Suttas) des Buddha im Pali-Kanon zu unterscheiden sind. Diese fünf umfassenden "Sammlungen" (Nikâyas), die im Buch nicht erwähnt werden, gelten als die Quelle zur Lehre des historischen Buddha. Er wirkte im sechsten bis fünften vorchristlichen Jahrhundert in Indien. Der Pali-Kanon ist die Textgrundlage des frühen Buddhismus Theravâda, der heute in Südostasien und auf Sri Lanka maßgeblich ist. Die Unterweisungen des Erwachten unterscheiden sich sprachlich und inhaltlich klar von den Versionen des Abhidhamma im Theravâda oder Abhidharma im Mahâyâna.
Spätere Lehrmeinungen Auch erscheinen zur buddhistischen Hauptfrage der "höchsten Wirklichkeit" nicht die Erfahrungslehren des Buddha (kurz "alle Dinge sind das Nicht-Selbst" sabbe dhammâ anattâ in der stets fließenden, letztlich unfixierbaren Natur der Erscheinungen), sondern spätere Lehrmeinungen: Matthieu Ricard etwa glaubt, dass die "Ich"-Vorstellung (lediglich) der "feinen Ebene des Bewusstseins" mit dem "Geistesstrom" und dessen "Neigungen und Gewohnheiten" entspräche. Der "ganz feinen Ebene" (dagegen) würde das "reine Bewusstsein" als "leuchtend" bzw. die "Buddha-Natur als das innerste Wesen des Geistes" entsprechen. Der Dalai Lama bestätigt: "Die erwähnte leuchtende Natur des Geistes ist etwas Ursprüngliches, Fundamentales und Wesenhaftes". Diese Lehren wurzeln in der mahâyâna-buddhistischen Philosophie-Schule vom "Nur-Geist" (Chittamâtra, oder Yogachâra, ab 4. Jh. n. Chr.), nämlich dass die Außenwelt reine Illusion und "nur" der "Geist" wirklich oder wesenhaft real sei. In der langen tibetischen Gelehrtenausbildung sind die umfangreichen Abhandlungen der altindischen Begründer dieser Philosophie absolut zentral. Auch ein Kernselbst einer "Buddha-Natur" (ab 3. Jh. n. Chr., Indien) ist keine Lehre aus den Reden des historischen Buddha. Er hat das Potenzial zum "wahren Menschen" (Sappurisa) oder "Edlen" (Ârya) betont, der zunehmend zum ungetrennten "Nicht-Selbst" (Anattâ) im befreiend erfahrbaren "Alles fließt" der Erscheinungen erwacht. Auf den philosophischen Ansichten des Mahâyâna beruht der im Buch besonders betonte Glaube an den reinen, leuchtenden, an sich von allen destruktiven Emotionen freien "Geist" als ein letztes "Ding" bzw. formloses wahres "Selbst", das in den Reden des historischen Buddha im Pali-Kanon nicht vorkommt (wohl aber etwa in der im Buch erwähnten tibetischen Kernpraxis des Dzogchen). Spätere Lehrmeinungen sind auch das (laut Goleman und Varela) "'leere Selbst', wie es der Buddhismus sieht", oder (laut Flanagan, Dalai Lama und Ricard) die "Folgerung, dass die Annahme eines beständigen Ich oder Selbst falsch ist", was die moderne Ansicht von einem "vergänglichen Selbst" bedeutet. Der historische Buddha hat keine trennende Instanz irgendeines wahren "Selbst" gelehrt. Hier liegt übrigens auch der Grund, warum er keinen Glauben an "Gott" oder "Ewige Seele" vertritt - der Buddhismus ist bekanntlich die einzige nicht-theistische Weltreligion. Einer der Beinamen des historischen Buddha etwa lautet "Der Verkünder des Nicht-Selbst" (Anattâ-Vâdî). Doch im Buch wird auch dieser Praxislehre (häufig) der Begriff "Seele" zugedacht. In den Reden des historischen Buddha im Pali-Kanon gilt die "Seele" (Jîva) nur als eine weitere Form des "Selbst"- oder "Ich"-Glaubens. "Bodhi" bedeutet wörtlich "Erwachen" zur wahren bzw. "Selbst"-losen Realität, nicht wie im Buch "Erleuchtung", nämlich eines "Selbst", das zu seinem "leuchtenden Geist" kommt. In den Lehrreden des Buddha ist der "leuchtende Geist" immer bloß ein vorübergehender Zustand im Kontext der vorbereitenden Sammlung, kein Zustand oder Inhalt der befreienden Schau. Hier sind gleichermaßen alle Geisteszustände mit dem Geist das "Nicht-Selbst" (Anattâ), keine metaphysische Entität. Daran wird hier kein Zweifel gelassen. Als eine metaphysische Entität erscheint der "leuchtende Geist" erst durch spätere Bedeutungsentwicklungen dieses Terminus im Mahâyâna. Dies betont etwa auch der deutsche Theravâda-Mönch Analayo, Verfasser des primären Werkes (ausgehend von seiner Promotion) zu einer Hauptrede des Buddha zur Achtsamkeit (Satipatthâna: The Direct Path to Realisation, Windhorse Publications). Aus frühbuddhistischer Sicht geschieht mit den spätbuddhistischen Lehren von den vermeintlichen metaphysischen Entitäten von einem wesenhaften "leuchtenden Geist", "leeren Selbst", "vergänglichen Selbst" oder eines seelenähnlichen Kernselbst "Buddha-Natur" folgendes - die konventionelle Wahrheit des "Selbst" wird als höchste Wirklichkeit missverstanden. In der Lehre des Erwachten gilt das "Selbst" (obgleich nicht für die höchste Wirklichkeit, so wohl) für die konventionelle bzw. relative Wirklichkeit. Diese ist Gegenstand der westlichen Wissenschaften mit den "Wissenschaften vom Geist und Leben" auf den "Mind und Life"-Konferenzen. Ihre Ergebnisse haben relative Gültigkeit.
Ein großangelegtes Engagement Golemans neues Werk ist - neben seinem Vorzug, die weitgehenden Bande zwischen moderner Wissenschaft und buddhistischer Lehre aufzuzeigen - ein großangelegtes Engagement für den späteren und speziell den tibetischen Buddhismus. Dies wird bereits daran offenkundig, dass von den zwölf an der Konferenz teilnehmenden Personen (einschließlich des Dalai Lama und Daniel Goleman) sechs Buddhisten und von ihnen fünf führende tibetische Buddhisten sind (zwei davon Mönche sowie zwei ehemalige Mönche, die also mit ihrer Tradition besonders verwoben sind). Zum Abschluss des Auftaktkapitels mit den "unerhörten Befunden" von neurowissenschaftlichen Untersuchungen hinsichtlich eines westlichen Meditationsmeisters, während er sechs Meditationsformen des tibetischen Buddhismus praktiziert, sagt Goleman: "Ein Ertrag dieses wissenschaftlichen Programms könnte darin bestehen, dass Menschen dazu gebracht werden, besser mit ihren destruktiven Emotionen umzugehen, indem sie einige der genannten Methoden dazu benutzen, ihren Geist zu schulen." Der Dalai Lama betont es gleich im Anschluss noch einmal. Gegen solche Betonungen ist im Prinzip nichts einzuwenden - aber so wie hier geht es im Buch immer um spätere Praxisformen (auch an den Stellen, wo von der "Achtsamkeit" die Rede ist; vgl. weiter unten im Text). Dieses Engagement für eine bestimmte Richtung ist (aus dem Selbstverständnis des tibetischen Buddhismus als überlegener "Dachtradition") nun auch mit einer Abwertung anderer buddhistischer Traditionen verbunden. So wird etwa stark für die tantrischen Lehren Tibets plädiert, deren Quellen erst mit der letzten Formierungsphase des Buddhismus in Indien entstanden sind. Es heißt, im Tantrismus gäbe es "spirituelle Praktiken, die ausdrücklich das Ziel verfolgen, Haß und Aggression (ebenso wie Verlangen und Anhänglichkeit) umzuwandeln, statt sie bloß zu bekämpfen oder zu unterdrücken, wie es in anderen Schulen des Buddhismus üblich ist."
Die westliche "Abwandlung"
der Achtsamkeit Franscisco Varela betont eine "regelrechte Kultur der Blindheit" in der Annahme westlicher Forscher, dass die Beobachtung der eigenen Erfahrungen schon da und nicht erst auszuprägen wäre. So ist im Buch in abendländischer "Abwandlung" (wie Goleman sagt) auch die buddhistische Urlehre von der "Achtsamkeit" ein Thema. Der andere Grund dafür ist, weil sie sich, laut Goleman, "möglicherweise für einen säkularen Umgang mit destruktiven Emotionen eigne, da man sie erlernen kann, ohne Buddhist zu werden". So erscheint sie im Buch mit dem Attribut "säkularisiert", besonders beim komplementärmedizinischen Behandlungsprogramm des Amerikaners Jon Kabat-Zinn. Er vertritt ein höchstes "Selbst", beansprucht aber, die Essenz der Lehre des Buddha zu wahren. Durch den Ausdruck "säkularisiert" wird die Achtsamkeit von ihrer, aus monotheistischer Sicht "fremden" religiösen Quelle abgegrenzt, jenen alten Reden des historischen Buddha im Pali-Kanon des frühen Buddhismus Theravâda. Hier gilt sie als eine Art von Flussbett für den inneren Strom des Befreiungsweges von ethischer Motivation, geistiger Ruhe und klarem Sehen "Vipassanâ". Der Erwachte hat die Achtsamkeit sogar als das Hauptinstrument gelehrt, um die höchste Wahrheit des ungetrennten "Nicht-Selbst" im "Alles fließt" der Phänomene zu verwirklichen. Aus seiner Sicht entspricht dieser ganze "innere Weg" dem kulturübergreifenden, zeitlosen Gesetz "Dharma" (das, was trägt). In diesem Sinne ist die ursprüngliche Achtsamkeitslehre bereits höchst "säkular". Golemans und Kabat-Zinns "Modernisierungsanspruch" lenken davon ab. Zentral für den ursprünglichen Praxiskontext der "trefflichen Achtsamkeit" (sammâ Sati), welche zunehmend die höchste Wahrheit des Nicht-Selbst im "Alles fließt" der Phänomene trifft, ist auch die Überwindung der "mentalen Vervielfältigung" (Papancha). Dieser Begriff umfasst die obsessiven Prozesse des Geistes (wie Erinnerungen, Pläne, Tagträume, Phantasien, selbstgängige Gedanken), als primärer Ausdruck der Leidursachen "Durst und Ergreifen". Das Verhältnis von Durst und mentaler Vervielfältigung ist übrigens ein Grund für das tiefe Band dieser Lehre zu der Philosophie Arthur Schopenhauers, welcher den Intellekt als "Diener des unbewussten Willens" versteht. Der Titel seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung ist ein exaktes Resüme der Kernlehren des Erwachten. Die Achtsamkeitslehre des Buddha ist auch nicht identisch mit der "Selbstwahrnehmung" bzw. dem Gefühlsmanagement von Daniel Golemans Emotionaler Intelligenz (sein Buch), bei ihm etwa die "Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu beobachten". Bei der emotionalen Intelligenz wird wieder ein real existentes "Selbst" angenommen. In den Reden des historischen Buddha im Pali-Kanon finden sich keine Begriffe wie "Selbstwahrnehmung", "Selbstbeobachtung" oder "Selbstverwirklichung". Die "treffliche Achtsamkeit" geht auch darüber hinaus, wie Paul Ekman im Buch die "buddhistische Achtsamkeits-Meditation" versteht, nämlich als "eine Möglichkeit, Impuls- und Handlungs-Wahrnehmung zu erreichen". In der alten Praxislehre des Erwachten dient sie vor allem dazu, etwa durch systematisch eingeübte Meditation, beim Sinneskontakt oder den ausgelösten Gefühlen bzw. Bewertungen allmählich sanft den gewöhnlichen Übergang zu den "Inneren Zwängen" (Kleshas) zu kappen. Damit schafft sie die Basis für die befreiende Schau der letztlichen Realität in allen Dingen. Die im Buch regelmäßig bzw. genau vorgestellten tibetisch-buddhistischen Meditationsformen werden kaum von ihrem religiösen Ursprung getrennt. Dazu gehören tantrische Visualisierungen oder (im Sinne des tibetisch-buddhistischen Grundsatzes der "Hingabe an den Guru" als Hauptbedingung für den spirituellen Fortschritt) die "Meditation über die Verehrung", die beide in den Reden des historischen Buddha im Pali-Kanon nicht erscheinen. Der Erwachte hat sich als einen "spirituellen Freund" bezeichnet. Der Glaube an die Reinkarnationen verstorbener Meister, die mithin von klein an als "wertvolle Große" (Rinpoches) besonders verehrt werden, existiert ausschließlich im tibetischen Buddhismus. Diese Institution gab es auch hier in den ersten Jahrhunderten nicht, sondern sie ist bezeichnenderweise erst dann entstanden, als der Buddhismus in Tibet staatstragend geworden ist. Goleman schwärmt von den "vielen, vielen geeigneten Mitteln zur Pflege positiver Daseinsweisen, die man im tibetischen Buddhismus findet". Bei der Frage, wie in der Wirtschaft mehr emotionale Intelligenz gelehrt werden könne, spricht er von Untersuchungen, deren Ergebnis "ganz auf Matthieus Modell hinauslaufen". Matthieu Ricard präsentierte zuvor ausführlich eine für den tibetischen Buddhismus typische Meditation der rein gedanklichen Mitleids-Kultivierung, die er danach im Gespräch als "ziemlich säkular" bezeichnet. Goleman vergleicht diese gedankliche Praxis mit einer "Abwandlung der Achtsamkeits-Meditation" bei Jon Kabat-Zinn. Der Grund, warum es hier "Abwandlung" heißt, kommt nicht: In der Achtsamkeits-Lehre des historischen Buddha sind die Gedanken kein Instrument der befreienden Betrachtung. Hier geht es um das möglichst nahtlose, nicht-dualistische oder nicht-gedankliche Wahrnehmen der körperlich-geistigen Prozesse als Spürqualitäten, um langsam ihre stets fließende bzw. letztlich ungreifbare, weil substanz- bzw. "Selbst"-los freie Natur befreiend zu sehen Im Buch wird auch nicht angedeutet, dass der überwiegende Teil der Reden des historischen Buddha (darunter auch die besonders zentralen zur Achtsamkeit) nicht in den tibetischen Kanon aufgenommen worden sind. Folglich haben sich hier Meditationsansätze entwickelt, die sich etwa von der populären und ältesten buddhistischen Praxisform der Achtsamkeits- oder Einsichtsmeditation "Vipassanâ" (klares Sehen, intuitives Wissen) klar unterscheiden. Sie ist die Hauptpraxis des frühen Buddhismus Theravâda. Das Vipassanâ wird gar nicht erwähnt, und der Zen kaum. Lediglich das "Vipashyana" (Sanskrit für "Vipassanâ") wird erwähnt, und dies auch mehrfach. Aber es bedeutet im tibetischen Buddhismus etwas Anderes. In einem biografischen Bericht wird mit einem Satz S. N. Goenka (der Hauptvertreter des weltweit einflussreichsten Vipassanâ-Ansatzes des "Body Sweeping" oder Körperhineinkommens) genannt, wobei selbst hier nur wieder der Begriff "Vipashyana" erscheint. So wird eine Gleichheit mit den Praxisformen nahegelegt, die an anderen Stellen des Buches für den tibetischen Buddhismus als "Vipashyana" beschrieben werden. Außerdem wird Goenka in diesem Satz als ein "Gastlehrer in Dharamsala", dem indischen Ort mit dem Sitz des Dalai Lama, bezeichnet. Er ist aber nicht von tibetischen Buddhisten nach Dharamsala eingeladen worden, um dort mit einem Kurs seine Sicht des tibetischen "Vipashyana" zu präsentieren. Eines der heute 38 indischen Vipassanâ-Zentren mit fortlaufendem Kursbetrieb in Goenkas Linie steht in Dharamsala. Als einmal eine bekannte westliche Vipassanâ-Lehrerin zitiert wird, heißt sie "Buddhismus-Lehrerin". Auch die "Achtsamkeits-Meditation" (bzw. das Vipassanâ) selbst heißt im Buch immer bloß "buddhistisch", um sie als rein religiös zu suggerieren bzw. von jenen "säkularisierten Formen der Achtsamkeits-Meditation" abzugrenzen. Der Ausdruck "Vipassanâ" wird im Buch konsequent vermieden. Der thailändische Mönch Somchai Kusalacitto, der einzige Vertreter des Theravâda auf der Konferenz, gibt einmal seine Interpretation der Hauptrede des Buddha zur Achtsamkeit, dem Satipatthana-Sutta. Dabei geht er vom späteren Abhidhamma seiner Tradition aus. So geht es bei ihm etwa um einen real existenten "Geist" (als eine metaphysische Entität wie in der Philosophie vom "Nur-Geist" des Mahâyâna), oder um eine auf "Objekte" fixierte "beobachtenden Haltung der Achtsamkeit", die letztlich "den Geist selbst zum Objekt macht". Doch im Satipatthâna-Sutta geht es durchweg um ein "eingehendes Sehen" Anupassanâ, um langsam allen dualistischen Schein aufzulösen. Entscheidend für dieses allmähliche Sehenlernen ist das bewusste Atmen, das in der Praxislehre des Erwachten als ein vollständiger Befreiungsweg gilt - nicht als bloßes Konzentrationsmittel, das, wie Kusalacitto meint, "negative Emotionen" lediglich "blockiert". So passt auch der einzige zur Konferenz eingeladene Vertreter des Theravâda mit seinen Abhidhamma-Ansichten nahtlos zur substanzorientierten Sicht der anderen, die von einem vermeintlich wesenhaften "leuchtenden Geist", einer der "ewigen Seele" ähnlichen "Buddha-Natur", einem "leeren Selbst" und einem "vergänglichen Selbst" ausgeht.
Eine gefärbte Sicht Die tibetisch-buddhistische Färbung der Buddhismus-Darstellungen wird außerdem an der Art der mehrfachen Nennung einer herausragenden buddhistischen Urschrift deutlich. Das nach den Reden des Buddha prägendste Werk des gesamten Buddhismus sind wörtlich Die Wurzelverse zum Mittleren Weg des Nâgârjuna (2-3. Jh. n. Chr., Indien). Es besteht aus hochpräzisen Versen, die als "Bomben" auf scholastische und philosophische Sichtweisen fungieren, um die ursprüngliche Befreiungslehre des Erwachten wieder in Kraft zu setzen. Dies ist zu einer Zeit geschehen, als die Scholastik und die philosophischen Tendenzen zunehmend das Bild prägten. Deshalb sehen manche Kenner des Buddhismus Nâgârjuna nicht als den "Begründer" einer philosophischen Schule oder als einen "Philosophen". Doch gemäß der besonders ausgeprägten philosophischen Orientierung des tibetischen Buddhismus werden im Buch Nâgarjunas "Wurzelverse" kurzerhand in "Grundlagen des Mittleren Weges" umbenannt. Nâgârjuna hatte Gründe, keine (solche) Abhandlung zu verfassen. Auf dieser achten und ebenfalls den anderen "Mind and Life"-Konferenzen (2003 war es die elfte) waren die anwesenden Buddhisten ganz überwiegend Vertreter des tibetischen Buddhismus, selbst wenn immer bloß von "Buddhismus" generell die Rede ist. Auch der frühe Buddhismus Theravâda mit dem Vipassanâ (Südostasien und Sri Lanka) sowie der Zen (Fernost), die anderen beiden Haupttraditionen des Buddhismus im Abendland, bieten eine Palette von Lehren und Meditationsmethoden, wenngleich sie von anderer Art sind. Das größte Wachstum im Abendland, was die Praxis buddhistischer Meditation angeht, erfährt das im Buch, vorsichtig konsequent, unerwähnt bleibende Vipassanâ. Dieses Engagement westlicher Wissenschaftler für den späteren Buddhismus könnte unbewusst darin gründen, dass jene vermeintlichen metaphysischen Entitäten von einem wesenhaften "leuchtenden Geist" bzw. der "Buddha-Natur", des "leeren Selbst" und des "vergänglichen Selbst" als Brücke zum Glauben an "Gott" oder "ewige Seele" des christlichen Abendlandes fungieren. Ein weiterer Grund könnte das besonders am Meister orientierte Verständnis der spirituellen Entwicklung im tibetischen Buddhismus sein, gegenüber der besonders die Selbstverantwortung betonenden Einsichtspraxis Vipassanâ. Doch zum Zwecke einer wissenschaftlichen, objektiven Wiedergabe ist der spätere Buddhismus von den alten Lehren zu unterscheiden, wie sie mit den Reden des Buddha im Pali-Kanon vorliegen. Doch es ist hier auch zu sagen, dass der besondere und effektive Eifer tibetischer Buddhisten, wie er sich heute mit diesem Werk und darüber hinaus vielseitig im Westen zeigt, einen nachvollziehbaren Grund hat. Durch die Besetzung und Unterdrückung Tibets durch das kommunistische China seit 1959 ist die tibetische Identität und Hochkultur, die nach der altindischen Kultur das umfangreichste religiöse Schrifttum der Welt aufweist, fundamental bedroht worden. Früher im alten Tibet zeigte der tibetische Buddhismus keinen solchen Missionsdrang. Und der noch junge Buddhismus im Abendland hätte es ohne den Dalai Lama und die Tibeter mit den großangelegten Ausbildungssystemen ihrer buddhistischen Mahâyâna-Tradition gewiss schwerer, zu Ansehen und gesellschaftlicher Wirkung zu gelangen. Wenn man die mit diesem Buch vorgenommene
Auswahl von buddhistischen Lehren und Meditationsformen im Sinn behält,
die mit einigen weiteren Belegen zu illustrieren wäre, ist es eine
zu empfehlende Lektüre. Denn es vermittelt die heilende Effektivität
buddhistischer Meditationsformen, wenn auch nur der hier ausgewählten.
Außerdem zeichnet es ein rundes Bild vom spannenden, fruchtreichen
und heute fest etablierten Dialog zwischen moderner Wissenschaft und Buddhismus. |
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