Das so genannte "Buddhistische Bekenntnis"
der "Deutschen Buddhistischen Union"
(Dachverband einiger Gruppen)


Hans Gruber

Das universelle "Nicht-Selbst" (anattâ) ist mit den "Vier Edlen Wahrheiten" das Herz der Praxislehre des historischen Buddha. Doch es ist ein brisantes Thema, das nicht selten umschifft oder subtil verstellt wird. Denn in den monotheistischen Religionen, welche das Unbewusste im Abendland über viele Jahrhunderte tief geprägt haben, herrscht ein personalisierter bzw. Grund-dualistischer Begriff von der Höchsten Realität — mit einem allmächtigen "Schöpfergott" im "Ewigen Himmel", dessem persönlichen Widersacher "Satan" in der "Ewigen Hölle", sowie der "Ewigen Seele" des Menschen in angst- und schuldvoller Spannung zwischen diesen personalisierten Quellmächten (des Denkens) von "entweder gut oder böse".

Demgegenüber ist die Grundsicht des Erwachten zur Höchsten Wirklichkeit "das (ungetrennte) Nicht-Selbst(-Selbst)" alles Bedingten und des Unbedingten: "Alle Dinge sind das Nicht-Selbst" Anattâ. Es verneint auch den Glauben an ein persönliches und unpersönliches Gott-(Über-)"Selbst". Das allbezogene Nicht-Selbst gehe uns in dem Maße befreiend auf, wie sich innerlich das "Höhere Sehen" Vipassanâ der konkreten Wirklichkeit, der eigenen Erfahrung bzw. phänomenalen Welt entfalte. Mit diesem wirklichkeitsgemäßen Sehen wird klar, dass alle Erscheinungen flusshaft-vergänglich anicca, deshalb letztlich nicht-tragfähig, ungreifbar bzw. unseren Hoffnungen aus "Durst" nicht entsprechend dukkha, und eben deshalb das Nicht-Selbst sind. 

Damit sind die "Drei Daseinsmerkmale" angesprochen, Inhalt der zweiten Rede des Buddha. Resümiert lauten sie: "Alles fließt, bietet keine echte Standfläche, sondern ist das allbezogene, ungetrennte Nicht-Selbst". In den ältesten Redensammlungen des Erwachten im Pali-Kanon des frühen Buddhismus Theravâda (Lehre der Ältesten) erscheinen die Drei Daseinsmerkmale in diversen Kontexten immer wieder. Sie sind (neben den "Vier Edlen Wahrheiten" vom Leiden, der Leidensursache, dem Leidensende, sowie dem "Inneren Weg" dahin) die Kernlehre des Erwachten zur Höchsten Realität. 

Neben diesem Hauptunterschied zur monotheistischen Sicht vom Höchsten geht es im frühen Buddhismus auch nicht um das absolute bzw. dualistische "entweder gut oder böse", sondern um "heilsam und unheilsam". Dies heißt, es geht hier nicht um vorgestellte Moralismen, sondern um die stets in der eigenen Erfahrung direkt verifizierbaren Tat(rück)wirkungen, bzw. das "Karma" (sanskrit, wörtlich "Wirken, Rückwirken").

Ungeachtet dieser zentralen Position der Drei Daseinsmerkmale, die im allbezogenen "Nicht-Selbst" kulminieren (weil flusshafte Vergänglichkeit und Nichttragfähigkeit das auf alles bezogene Nicht-Selbst begründen), und auch ungeachtet der Betonung dieser zentralen Position nicht nur durch den historischen Buddha, sondern ebenfalls zum Beispiel durch berühmte moderne Theravâda-Meister wie Nyanaponika Mahâthera, Ajahn Chah oder Ajahn Buddhadâsa, wird bei diesem Thema heute oft (unbewusst?) weggesehen.

Ein eindeutiges Beispiel dafür ist das "Buddhistische Bekenntnis" (vgl. "www.dharma.de") der "Deutschen Buddhistischen Union (DBU)". Diese ist der Dachverband für buddhistische Gruppen und Einzelpersonen in Deutschland. Ihm gehören jedoch keineswegs alle buddhistischen Gruppen und Einzelpersonen an. Die größte Tradition der frühbuddhistischen Achtsamkeitspraxis Vipassanâ zum Beispiel, das "Körperhineinkommen", ist kein Mitglied in der DBU. Der große Newsletter dieser Vipassanâ-Tradition alleine übersteigt bereits die Auflage der Lotusblätter, des Organs der DBU. Auch etwa verschiedene einflussreiche Lehrende in Deutschland sind nicht Mitglieder in der DBU. Deshalb ist in Wahrheit der Anspruch "Dachverband" unbegründet. Er bedeutet eine Irreführung, gerade auch der Medien.

Es ist auch ein Spezifikum für den deutschsprachigen Raum. Im englischsprachigen Raum, wo der Buddhismus auch in Relation zur Bevölkerung einflussreicher ist, gibt es keine Dachverbände.

In den Lotusblättern (3 / 2001) heißt es einleitend zum "Buddhistischen Bekenntnis": 

"1988 wurde das Buddhistische Bekenntnis nach vielen Entwürfen zur Grundlage der Arbeit in der Deutschen Buddhistischen Union. Damit haben die Buddhistinnen und Buddhisten etwas zu Wege gebracht, das nicht nur in Deutschland Seltenheitswert besitzt; eine von allen akzeptierte Formulierung von gemeinsamen Grundsätzen und Zielen. Das Buddhistische Bekenntnis spiegelt zugleich den Geist und die Grundlehren des Buddha". 

Doch wenn es so wäre, dass es "zugleich den Geist und die Grundlehren des Buddha spiegelt", müssten die Drei Daseinsmerkmale bzw. das "Nicht-Selbst" hier unbedingt erscheinen. Dies geschieht mit keinem Wort.

Wenn gelegentlich in spät nach dem Buddha entstandenen buddhistischen Traditionen von einem "Wahren Selbst" gesprochen wird (im Zen), kann dies kein Grund sein, diese klare Kernlehre des Erwachten vom Nicht-Selbst (als der "wahren Natur" aller Dinge, die auf dem inneren Befreiungsweg allmählich zu verstehen ist) unbeachtet zu lassen. Dies wäre genau so, als würden christliche Gruppen in Südostasien ein gemeinsames Bekenntnis verabschieden, worin der Glaube an "Gott" und die "Ewige Seele" nicht vorkommt. Denn dieser Glaube ist die monotheistische Sicht von der Höchsten Realität.

Es lässt sich auch nicht einwenden (wie es in Gesprächen von Vertretern der DBU geschehen ist), dass sich die Erwähnung des "Nicht-Selbst" erübrige, weil es bereits im Achtfachen Befreiungspfad beinhaltet sei. Dies wissen die Außenstehenden nicht. Und mit dem "Buddhistischen Bekenntnis" wendet sich die DBU mindestens so sehr an die Außenstehenden, denen damit die buddhistische Lehre in Form eines Resümees vermittelt werden soll. Außerdem sind ja auch die "Vier Edlen Wahrheiten" im Achtfachen Pfad beinhaltet. Doch sie werden im "Buddhistischen Bekenntnis" eigens erklärt. Folglich müsste ebenfalls das universelle "Nicht-Selbst" mit dessen beiden Gründen (des steten Flusses und der letztlichen Nichtgreifbarkeit aller Phänomene) eigens erklärt werden. Denn diese "Drei Daseinsmerkmale" sind gleichermaßen zentral.

Ein religiöses Bekenntnis muss alle wesentlichen Pfeiler der Grundlehre, zu der man sich bekennt, prägnant und in korrekter Weise zusammenfassen.


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Das "Nicht-Selbst" aus Buddhas Sicht vom Leiden

Im "Buddhistischen Bekenntnis" wird auch die erste Edle Wahrheit auf eine Weise resümiert, welche den alten christlichen Pessimismusvorwurf an den Erwachten wiederspiegelt: "Das Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll." Außerdem beinhaltet dieser Satz, dass es daneben noch ein Leben (außerhalb des vergänglichen Daseinskreislaufes) gäbe. Dieses könnte folglich bloß ein "Ewiges Leben" sein. Doch der Erwachte hat jedes Leben als den Inbegriff des bedingt Entstandenen und somit flusshaft Vergänglichen gesehen. Aus diesem Grunde hat er gar kein Leben als "ewig" verstanden. 

Im Gleichnis von der Schlange der Mittleren Sammlung bezeichnet er alle Ewigkeitsvorstellungen hinsichtlich des Selbstes nach dem Tode ausdrücklich als "vollkommen närrisch". Eine solche "vollkommen närrische Lehre" wird hier dem Buddha also indirekt unterstellt. Laut seiner Praxislehre bedeutet das Überwinden des Samsâra oder Daseinskreislaufes gerade das Versiegen allen Lebens: "Parinirvâna" (es sei denn, man nimmt Leben aus dem "Großen Mitgefühl" mit den Lebewesen freiwillig an, wie es das Mahâyâna für möglich hält; aber auch dieses freiwillig angenommene Leben ist vergänglich). 

Die Befreiung des Nirvâna ist frei von allem Durst, besonders nach Leben. So heißt das Nirvâna auch höchstens das "Todlose" oder "Permanente", aber nie "Ewiges Leben". Eine andere Bestimmung lautet: "Das Unbedingte, Ungewordene, Ungestaltete". Es wird als unmittelbar realisierbar und innerlich erfahrbar, aber dabei unvorstellbar definiert: "Kein Maß ermisst den Menschen, der zur Stille findet. Keine Begriffe gibt es, ihn noch zu erfassen. Wenn alle Dinge vollkommen abgelegt sind, ist auch der Rede jeder Pfad verschlossen."

Der Erwachte hat die erste Edle Wahrheit nirgendwo wie im "Buddhistischen Bekenntnis" resümiert - schon aus simplen logischen Gründen nicht: Im Falle einer Identität des Lebens mit dem Leiden wäre eine Befreiung im Leben ganz unmöglich. Mit dieser Identitätsannahme hätte sich der Buddha selbst tief widersprochen, weil die Befreiung im Leben sein einziges Anliegen ist: "Nur eines lehre ich, jetzt wie früher: Das Leiden und das Ende des Leidens!" Der Buddhismus ist, was unter Buddhisten bekannt sein sollte, eine Religion, die in fast all ihren Formen (außer dem ursprünglichen Amitâbha-Buddhismus des Japaners Hônen) die Befreiung im Leben bezweckt.

Auch impliziert eine umfassende "Diagnose" von Leiden mit dessen Ursache keineswegs jene Idee, das Leben sei Leiden. Eine umfassende Diagnose ist hier vielmehr Not-wendig, um wirklich die innere Aufnahmebereitschaft für das "Behandlungsmittel" (die Edlen Wahrheiten vom Leidensende, und dem Weg dahin) zu erwecken. Deshalb wird der Erwachte häufig mit einem Arzt verglichen, der eine umfassende Diagnose der "Krankheit" stellt, bevor er das Behandlungsmittel verschreibt.

Im "Buddhistischen Bekenntnis" ver-"Selbst"-ständigt sich die erste Edle Wahrheit vom Leiden, indem es dort als das objektive, dies heißt von den empfindenden Lebewesen getrennte Wesensmerkmal des "Lebens Selbst" dargestellt wird. Diese verabsolutierende Tendenz führt (neben der tiefen kulturellen Prägung, es gäbe ein "Ewiges Leben") zu folgender Aussage im Bekenntnis: "Das Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll." 

Aber der Erwachte hat die erste Edle Wahrheit vom Leiden alleine in einer subjektiven Hinsicht betrachtet, nämlich (laut seinem darin stehenden eigenen Resümee) als das Ergreifen des Lebens; in seinen Worten: "kurz, die Fünf Aggregate des Ergreifens sind Leiden" (also lediglich genau in dem Maße, wie man sie ergreift, werden sie zur Quelle von Leiden). Auch in dieser Weise wahrt er seine Praxislehre vom "Nicht-Selbst". Denn Leiden gilt hier eben nicht als objektives bzw. ver-"Selbst"-ständigtes Wesensmerkmal des Lebens selbst.

Nach der Lehre des Buddha lässt sich das Leiden im Leben überwinden, eben weil man dessen Ursachen "Nichtsehen, Durst und Ergreifen" in sich trägt. Doch als objektives Wesensmerkmal des Lebens wäre das Leiden im Leben doch niemals zu überwinden. 

Das Resümee der "Ersten Edlen Wahrheit vom Leiden", wie es im "Buddhistischen Bekenntnis" und, christlich geprägt, heute bei vielen Interpreten des Buddhismus  steht, entspricht dem christlichen Menschen- und Weltbild. Dieses besagt: "Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies bzw. Erbsünde", und somit das Leben als "Jammertal". Der Erwachte war mit seinen Worten höchst präzise. Denn in seiner Praxislehre gilt "Treffliche Sicht" als das "Zugpferd" des ganzen inneren Befreiungsweges. Deshalb hat er das Leben nicht mit Leiden gleichgesetzt.


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Die wahrscheinlichsten Gründe

Was sind die wahrscheinlichsten Gründe für die hier kritisch analysierte Darstellung des Buddhismus im "Buddhistischen Bekenntnis"? Die "Deutsche Buddhistische Union" erstrebt schon seit längerer Zeit die staatliche Anerkennung des Buddhismus in Deutschland als Religionsgemeinschaft (Körperschaft des öffentlichen Rechtes). Ein früherer Antrag der DBU wurde abgewiesen. Eine der damaligen Begründungen des Staates (unter maßgeblicher Einwirkung der katholischen Kirche in Bayern) für diese Ablehnung lautete, dem Buddhismus würden die hierarchischen Strukturen fehlen, welche ihn als kirchenähnlich ausweisen könnten. Die offizielle Anerkennung als "Körperschaft des öffentlichen Rechtes (KdöR)", die auch mit einigen materiellen Vorteilen verbunden wäre, dürfte folglich um so wahrscheinlicher werden, je "vertrauter" die aktuellen Interpretationen der deutschen Buddhisten den (kirchlichen oder christlich geprägten) Entscheidungsträgern anmuten.

Wenn hier der vielleicht unbewusste Grund für jene Deutungen der DBU liegt, wäre es Konformismus, auf Kosten der zentralen Lehre des Erwachten. Denn das universelle "Nicht-Selbst" widerspricht objektiv der monotheistischen Hauptlehre vom Grund-Dualismus "Schöpfergott oder Satan" gegenüber einer "Ewigen Seele". Der Buddha hat auch die "Seele" des Menschen (Jîva) bloß als ein Synonym für das "Selbst" gesehen, das er letztlich für absolut alles ausgeschlossen hat: "Alle Dinge sind das Nicht-Selbst". Im Gleichnis von der Schlange betont er: "Ich sehe keine Lehre vom Selbst, die, wenn sie ergriffen wird, nicht Unglück, Wehklagen, Schmerz, Kummer und Verzweiflung hervorbrächte." 

In seiner Lehre gilt der "Seelenglaube" (Satkâyaditthi) sogar als eine der primären inneren "Fesseln", welche es für die erste der "Endgültigen Befreiungsstufen", den "Stromeintritt", zu überwinden gilt.

Ein weiterer Grund für die Interpretationen im "Buddhistischen Bekenntnis" dürfte eine persönliche Vorprägung vieler abendländischer Buddhisten durch die Glaubensvorstellungen des Christentums sein. Dies führt dann unbewusst dazu, gleichsam alles mit diesen Vorstellungen Unvereinbare in der nichttheistischen Praxislehre des Buddha "auszufiltern". Im noch jungen Buddhismus im "christlichen Abendland" kommen viele als ehemals überzeugte Christen zu ihm. Sie erhoffen sich aus Enttäuschung vom Buddhismus nun etwas, was ihnen das Christentum nicht geben konnte. Sie sind aber trotzdem noch stark von christlichen Glaubensvorstellungen geprägt. Aus diesem Grunde "scheuen" sie vor all den Aspekten in der Praxislehre des Buddha "zurück", die im Widerspruch zu den verinnerlichten Kernlehren des Christentums stehen. So haben wir es gegenwärtig im christlichen Abendland mehr mit einer christo-buddhistischen als einer authentisch buddhistischen Szene zu tun. Dies ließe sich mit vielen Beispielen verdeutlichen.

Dadurch erhält der Buddhismus für zahlreiche potentielle Neuinteressierte (es gibt im Westen ungleich mehr "Sympathisanten" mit dieser friedfertigen indischen Praxislehre als bereits bekennende oder "praktizierende" Buddhisten) eine gewisse christliche "Anmutung". Das macht den Buddhismus für alle nicht vom Christentum ausgehende Neuinteressierte und sozialistisch vorgeprägte Atheisten wenig einladend.

Neben größter Präzision war kritisch-sachliche Auseinandersetzung ein zentrales Merkmal des Umgangs der spirituellen Lehrer im alten Indien. Sie sollte auch heute gewahrt bleiben. Eine der häufigsten Wendungen des Erwachten etwa in der zentralen Mittleren Sammlung des Pali-Kanons lautet: "Asketen und Brahmanen" (als der Sammelbegriff für alle zeitgenössischen Lehrer). Danach folgt immer eine kritische Auseinandersetzung mit deren Lehrmeinungen bzw. Verhaltensweisen. Der Buddha ist von wütenden Brahmanen aufgesucht worden, etwa wegen seiner Ablehnung des Kastensystems. 

Doch aus solcher Klarheit ist gerade die friedfertigste Weltreligion erwachsen.


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