Die Leerheit, Flugbahn ins Unendliche

Stephen Batchelor und Hans Gruber


Ein möglichst wortgetreues Resümee eines Seminartages mit dem bekannten buddhistischen Autor Stephen Batchelor vor Erscheinen dessen Buches Verses from the Center zu Nâgârjunas Hauptwerk. Alle nicht von Batchelor, sondern von mir gemachten Aussagen stehen im Folgenden kursiv (vgl. auch "zwei Buchprojekte" unter "Hans Gruber und Aktivitäten").

Nâgârjuna ist nach dem historischen Buddha die einflussreichste Persönlichkeit im Buddhismus. Er gilt als ein Urvater des Zen, als eine Hauptquelle des tantrischen Buddhismus und im tibetischen Buddhismus als der "Zweite Buddha". Geflügelte buddhistische Praxislehren wie "Die Leerheit", "Das Abhängige Entstehen", "Der Mittlere Weg", "Die Konventionelle und die Höchste Wahrheit" oder (alleine vom Standpunkt der Höchsten Wahrheit) "Samsâra ist Nirvâna" (die Befreiung des Nirvâna, wie es der Buddha versteht, als rein daseinsimmanent) beruhen noch mehr auf Nâgârjuna als auf Buddha. Denn Nâgârjuna hat diese Grundlehren des Buddha konkret auf die Lehrmeinungen seiner Zeit angewandt. In solcher Weise ist er gegen scholastische oder verabsolutierende Überlagerungen des ursprünglichen Befreiungsweges aktiv geworden (ob die Überlagerungen nun in Form der philosophischen Tendenzen in den später in Indien entstandenen Mahâyâna-Lehrreden "Sûtras" oder der "Abhidhamma"-Scholastik des frühen Buddhismus Theravâda auftraten). 



Der Erwachte Pantha am frühen Morgen (China): 

"Gähnend und sich streckend, in einem Zustand der Allwissenheit,
tief zufrieden mit allem."

 

 

Die Bedeutung Nâgârjunas

Vor Nâgârjuna (2.-3. Jh. n. Chr., Indien) bezog man sich auf den historischen Buddha (6.-5. Jh. v. Chr., Indien) entweder so, dass man dessen Worte originalgetreu wiedergeben oder sie kategorisierte und systematisierte, wie dies vor allem der "Abhidhamma" tut. Dieser umfasst die Psychologie des "Theravâda" (Lehre der Ältesten), der heute in Südostasien und Sri Lanka maßgeblich ist. 500 Jahren nach dem Tode des "Erwachten" entstanden die ersten Mahâyâna-Sûtras — jene Reden, welche wie die älteren Reden des Pali-Kanons (Textbasis des Theravâda) dem Buddha zugeschrieben werden. Doch mit Nâgârjuna wurde erstmals eine neue Stimme hörbar. Denn sie befasste sich selbstständig mit dem tiefsten Sinn der Lehre des Erwachten!

Nâgârjuna lässt sich nicht einordnen. Er wird zwar häufig als der Begründer des Mahâyâna (Großes Fahrzeug) betrachtet, das heute in Nord- und Ostasien vorherrscht. Aber Nâgârjuna spricht in seinem Hauptwerk etwa nicht vom "Bodhisattva", jenem großen Ideal des Mahâyâna vom selbstlosen Weltbefreier bzw. angehenden Buddha. Wenn Nâgârjuna von den "Erleuchtungsnahen" spricht, gebraucht er die Unterscheidungen des Theravâda: "Stromeingetretene, Einmalwiederkehrer, Nichtwiederkehrer und Befreite". Die einzige Rede, die er in seinem Hauptwerk namentlich zitiert, ist eine Rede im Pali-Kanon des Theravâda, das Kaccâyanagotta-Sutta. Nâgârjuna wird auch häufig als der "Bekämpfer" jener systematisch kategorisierenden Psychologie des Abhidhamma angesehen. Wenngleich Nâgârjuna den Abhidhamma nicht bekämpfend zurückweist, wird doch seine andersgeartete Absicht klar: Diese ist konsequent praxisorientiert.


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Das Abhängige Entstehen

Im Einleitungsvers seines Hauptwerkes Die Verse zum Mittleren Weg (Mûla-Madhyamaka-Kârikâ, das 27 Kapitel umfasst) betont Nâgârjuna das zentrale Anliegen des Erwachten: "Ich verehre den Buddha, welcher das Abhängige Zusammen-Entstehen lehrt, um den Menschen von den Fixierungen zu erleichtern." Nâgârjuna will einen dahin führen, dass man durch dieses Verstehen des "Abhängigen Zusammen-Entstehens" von den Fixierungen frei wird. Dieses Verstehen sei die "Praxis". Nâgârjuna vermittelt Buddhas Lehre vom Abhängigen Zusammen-Entstehen in ihrer vollen Tiefe.

Nâgârjunas Begriff für die inneren "Fixierungen" lautet "Prapañcha", wörtlich "Konzeptuelles Umsichgreifen", "Mentale Vervielfältigung" oder "Begriffliche Verselbstständigung". Hierbei handelt es sich um unsere große unbewusste geistige Obsession, dies heißt jene mentale Aktivität, welche in der zwanghaften Produktion von Gedanken, Ideen, Assoziationen, Erinnerungen und Plänen besteht. Fixierungen haben ihre tiefste Wurzel im eigenen Nichtsehen, weshalb sie zur Ruhe gebracht werden können. Ihre endgültige Auflösung ist das Nirvâna (Verlöschen), welches durch das gänzliche Verstehen der wechselseitig durchdrungenen "wahren Natur" der Realität bzw. des Abhängigen Zusammen-Entstehens hervortritt.

Letzteres besagt einfach, dass alle Phänomene untrennbar mit ihren Ursachen verwoben sind. Doch sie sind dies nicht alleine im linear-zeitlichen Sinne von Ursache und Wirkung. Das Abhängige Entstehen besagt gleichermaßen, dass jeder Begriff "jetzt aktuell" erst im Verhältnis zu anderen Begriffen verstehbar wird. "Vergangenheit", "Gegenwart" und "Zukunft" zum Beispiel sind jeweils für sich separat genommen nicht verstehbar. Sie ergeben bloß einen erfassbaren "Sinn", solange sie aufeinander bezogen bleiben. Dabei verhalten sie sich zueinander wie Boden, mittlerer Teil und oberer Teil eines Eimers. Das Eine ist unabhängig vom anderen nicht begreifbar.

Ähnlich sind etwa "Tag", "groß", "gut" oder "Gott" ohne den unbewussten Vergleich zu "Nacht", "klein", "schlecht" oder "Satan" nicht einsichtig. Das Abhängige Entstehen aller Dinge bedeutet den "Mittleren Weg", wie der Erwachte seine Praxislehre und Nâgârjuna seinen ganzen Ansatz nennt; nämlich den Mittleren Weg zwischen Real-existent-Sein und Gar-nicht-existent-Sein. Es wäre völlig verfehlt, die "Leerheit" (von einem "Selbst") als "Nichts" zu beschreiben, wie es häufig geschieht. Denn die Phänomene existieren sehr wohl. Dabei existieren sie nur nicht tatsächlich, real oder "Selbst"-ständig, wie sie aus der Sicht des Nichtsehens zu bestehen scheinen. Sie existieren in Wahrheit in restlos abhängiger Weise. Diese ihre restlose Abhängigkeit bzw. innere Verwobenheit ist gleichbedeutend mit Buddhas und Nâgârjunas allbezogener "Leerheit" von einem "Selbst".

Dies heißt: Alles, was existiert, tut dies bloß, wenn es in Relation zu seinen Ursachen oder anderen Begriffen gesetzt wird. In diesem Sinne existiert es nicht getrennt oder "Selbst"-ständig, wie dies aber unserer gewöhnlichen Wahrnehmung erscheint. Ihrem Wesen nach sind Abhängigkeit und Leerheit identisch. Denn jedes Konzept und jede Erfahrung ist "leer" (shûnya) von "Eigenwesen" (Svabhâva), weil jedes Konzept und jede Erfahrung vollkommen abhängig entstanden ist. Nirvâna heißt das Fahrenlassen aller geistigen Fixierungen, die (im Nichtsehen dieses universellen abhängigen Entstehens) gleichsam die Dinge "in sich selbst eingesperrt" halten.

Nâgârjuna beschreibt die Leerheit als den "Mittleren Pfad". Das Wort "Pfad" bedeutet hier das Fehlen von Behinderung bzw. das Offenhalten eines inneren Raumes, der freie Bewegung gestattet. Die Leerheit ist keine statische Perspektive. Sie ist vielmehr eine "Strategie" oder Seinsweise inmitten der Welt, durch die man nicht mehr in Fixierungen oder fixierte Ideen gerät. Nâgârjunas Hautwerk will den Leser direkt in diese Seinsweise "eintauchen". Deshalb ist es so bedeutsam; und deshalb löst es bei "Theoretikern" eine gewisse Scheu aus, die sich etwa in vielen unzutreffenden Übersetzungen von Nâgârjunas Meisterwerk niederschlägt.


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Leerheit bedeutet Freiheit

Wenn wir aus der Perspektive der Leerheit leben, sind wir fähig, wahrhaft frei zu leben, uns eine "vitale Dekonstruktion" und einen "Lebensmodus" zu erschließen, mit dem wir uns nicht mehr in Positionen festfahren. Ein Aspekt dieses Lebensmodus ist der spielerisch-leichte Umgang mit Worten. Die Poesie ist am besten geeignet, den Geist der Leerheit auszudrücken. Es ist irreführend, Nâgârjuna als den "Kritiker des Abhidhamma" oder den "Begründer der Schule des Mittleren Weges" zu bezeichnen, wie dies die Wissenschaft und die Tradition gewöhnlich tun.

Nâgârjuna ist der Poet der Leerheit. So suchte ich nach einer poetischen Sprache, um die Seinsweise der Leerheit zu vermitteln. Ich wollte jene tiefe Vermeidung Nâgârjunas durchbrechen. Denn keine der buddhistischen Haupttraditionen befasst sich mit den Originalschriften Nâgârjunas, obwohl sie (wie im Zen) Nâgârjuna als den "17. Patriarchen des Zen" (als einen Urvater des Zen) oder (wie im tibetischen Buddhismus) als den "Zweiten Buddha" bzw. den "Begründer der tiefgründigen Tradition" verehren.

Nâgârjunas Einfluss ist folglich gewaltig, wenngleich seine eigenen Schriften wirklich auffällig "gemieden" werden. Nâgârjuna hat ebenfalls maßgebliche Lehrende des modernen Theravâda beeinflusst, wie den thailändischen Meister Ajahn Buddhadâsa, welcher als der neben Ajahn Chah einflussreichste Meister in der Geschichte Thailands gilt. Buddhadâsa sieht die Leerheit als das "Herz" von Buddhas Lehre (vgl. etwa sein Buch "The Heartwood of the Bodhi-Tree", Wisdom Publications). Sein westlicher Hauptschüler Christopher Titmuss ist stark von Nâgârjuna inspiriert, welcher für ihn der "bedeutendste Interpret des Erwachten" ist.

Die heute im Westen rege hinduistisch-philosophische Lehre von der "Nicht-Zweiheit" (Advaita) ist vom indologischen Standpunkt aus letztlich eine Abwehrreaktion auf die buddhistische Denkschule, welche von Nâgârjuna ausgegangen ist. Denn der Advaita hat zwar Hauptaspekte von Nâgârjunas Denken übernommen, etwa die "Beiden Wahrheiten" der "Konventionellen Wahrheit" und "Höchsten Wahrheit". Doch zugleich vertritt er dabei die rein hinduistische Lehre vom höchsten Selbst "Âtman" und der Weltseele "Brahman", die beide in Wirklichkeit identisch wären (hier völlig entgegen Nâgârjunas Lehre des "alles ist leer von einem Selbst").

Aus Nâgârjunas kompromisslos wahrheitsgetreuer Sicht ist die Lehre von der "Nicht-Zweiheit" wohl dualistisch, weil sie von zwei entgegengesetzten Polen ausgeht: Dem gewöhnlichen, kleinen "Ich", das in der Welt der "reinen Illusion" (Mâyâ) verfangen sei, und dem Wahren Selbst "Atman", in dem alles eins sei; sowie außerdem noch von den beiden Polen des Wahren Selbstes und der Weltseele "Brahman", die identisch wären.

Diese Zweiteilung gleicht dem christlichen Grund-Dualismus von "Gott" und "Seele", den die Mystiker (so wie die Advaitins) in der "Unio Mystica" (so wie in der Nicht-Dualität) auflösen möchten. Beide Fälle bedeuten ein substanz- bzw. "Selbst"-orientiertes Denken, das Nâgârjuna mit dem Weg der Leerheit von einem "Selbst" bzw. des unfixierten Seins widerlegt hat.

Der Advaita ging vom gelehrten und orthodoxen Brahmanen Shânkara (8.-9. Jh., Indien) aus, der den Buddhismus explizit bekämpfte, und führte über indische Meister wie Ramana Mahârshi zu den heutigen Lehrern Poonjaji, Andrew Cohen, Eli-Jaxon Bear, Gangaji, Om C. Parkin usw.


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Die Verharmlosung Nâgârjunas

Die tibetische Tradition studiert eingehend Chandrakîrtis Kommentar zu Nâgârjuna. Aber Chandrakîrti vermittelt ein völlig anderes "Gefühl" als es Nâgârjuna tut. Denn Chandrakîrti macht Nâgârjuna zu einem "Philosophen". In Tibet gilt Chandrakîrtis Kommentar als Die Wurzeldarlegung zur Philosophie des Mittleren Weges (so der Titel). Chandrakîrti ist dort die Autorität zum "Mittleren Weg" des Nâgârjuna, nicht Nâgârjuna selbst. In Chandrakîrtis Kommentar finden sich etwa "Die 100 Verse zur Widerlegung der Nur-Bewusstseins-Schule". Nâgârjuna wird hier also zu einem kritischen Werkzeug gemacht, um andere buddhistische Schulen zu widerlegen. Dies ist durchaus auch eine interessante Art, Nâgârjunas Gedanken anzuwenden. Nur ist es ist nicht Nâgârjunas Art. Chandrakîrti hat den verspielten und für jedes Denksystem gefährlichen Geist Nâgârjunas "domestiziert", indem er ihn in ein komplexes philosophisches System "zweckentfremdet" hat.

Auch die abendländisch-wissenschaftliche Interpretation hat dies zum Ausgangspunkt genommen. Auch hier gilt Nâgârjuna als der "Begründer der Philosophie des Mittleren Weges". Alle westlich-wissenschaftlichen Übersetzer betrachten Nâgârjuna als den Begründer einer "philosophischen Schule", mithin als einen der westlichen Philosophie verwandten Denker. Alle diese Übersetzungen sind sehr trocken. Sie sind nicht poetisch und für den buddhistischen Leser kaum interessant. Sie mögen den Vorteil haben, dass sie die "Logik" von Nâgârjunas Denken vermitteln (auch dies ist etwa angesichts der völlig unterschiedlichen Wiedergaben vieler Verse zu bezweifeln). Aber sie können nicht erreichen, worum es Nâgârjuna lediglich geht; nämlich den Menschen von den Fixierungen zu erleichtern.

Populäre Standardwerke orientieren sich an der Wissenschaft. Das "Lexikon der östlichen Weisheitslehren" ist von einigen Orientalisten verfasst worden, die selbst auch bestimmten buddhistischen Schulen folgen. In diesem Werk heißt es zu Nâgârjuna unter anderem: "Nâgârjuna hat als erster in der Geschichte des Buddhismus ein philosophisches 'System' geschaffen, in dem er die Unwirklichkeit der Außenwelt zu beweisen versuchte." Doch Nâgârjuna hat weder ein philosophisches "System" geschaffen, wie auch Batchelor betont, noch versuchte er irgendeine philosophische "These" wie diejenige von der "Unwirklichkeit der Außenwelt" zu "beweisen". Er selbst sagt etwa klar: "Ich kann nicht widerlegt werden, weil ich nichts behaupte." Oder: "Wer an die Leerheit glaubt, ist unheilbar." Nâgârjuna dekonstruiert alle philosophischen Thesen und Glaubenssätze, bis nichts mehr übrig bleibt, woran sich der be-greif-ende Verstand noch festhalten könnte. "System" hat nur die Vermeidung Nâgârjunas in Wissenschaft und Tradition; mag auch sein, dass es eine unbewusste Kultur der Vermeidung ist.

Ein weiteres wichtiges Beispiel für die Betrachtung Nâgârjunas als einen Philosophen: In dem neuen und sehr hochauflagigen Buch des weltbekannten Psychologen Daniel Goleman ("Dialog mit dem Dalai Lama: Wie wir destruktive Emotionen überwinden können", Hanser Verlag) heißt es zum Punkt der wissenschaftlichen Begründung der nichtsubstantiellen Natur der Realität durch Niels Bohrs Quantentheorie: "Eine ähnliche Sicht war Grundlage des buddhistischen Denkens seit den Lehren Nâgârjunas, eines indischen Philosophen des zweiten Jahrhunderts, dessen "Grundlagen des Mittleren Weges" im Philosophie-Unterricht tibetischer Klöster bis heute einen zentralen Text darstellen." (Das Hauptwerk Nâgârjunas heißt auch nicht "Die Grundlagen des Mittleren Weges", sondern "Die Wurzelverse zum Mittleren Weg". Es geht darin nicht um "theoretische Grundlagen".) 

Mein (nun wieder Batchelors) Vorgehen: Ich habe eine möglichst wortwörtliche englische Übersetzung von Nâgârjunas Hauptwerk verfasst. Dazu habe ich zuerst die tibetische Fassung übersetzt und dann mit dem Sanskrit-Original verglichen. Der maßgebliche tibetische Kommentar von Je Tsong Khapa diente mir dafür als Orientierung. Diese wortwörtliche Übersetzung ist der eine Teil meiner Arbeit. Schließlich habe ich diese Übersetzung langsam poetisch umgewandelt, indem sie durch 20 Entwürfe ging. Diese poetische Form ist mit dem Original rückverglichen worden. Unterhalb der logischen Sprache Nâgârjunas gibt es eine konsequente "Stimme", die ich mit der poetischen Form wieder "heraushören" wollte. Denn es ist diese konsequente Stimme, die in der Tradition und Wissenschaft untergegangen ist.


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Die Flugbahn in das Unendliche

Die Leerheit als der Mittlere Pfad ist die "Flugbahn" in das Unendliche! Denn die Leerheit der Dinge ist ihre "Unfindbarkeit". Wenn wir nach dem Geist, dem Selbst oder irgend etwas anderem suchen, kommen wir niemals bei irgend einem "etwas" noch bei irgend einem "nichts" an. Die große Gefahr des Mittleren Weges besteht darin, die Leerheit in "Die wahre Natur der Realität" zu verabsolutieren, also anders gesagt, sie in eine Art geweihtes "Objekt" zu verwandeln. "Wer an die Leerheit glaubt, ist unheilbar". Er hat so nicht begriffen, worum es geht, wie Nâgârjuna betont.

Die Leerheit ist eine gefährliche Strategie. Sie muss wie die Giftschlange genau richtig angepackt werden. Andernfalls wendet sie sich gegen einen. Nâgârjuna spielt (sehr vorsichtig) mit dem Begriff der Leerheit. Er behandelt die Leerheit nicht als ein "Konzept", sondern als eine profunde Art und Weise, voll in der Welt zu stehen. Er sucht auf poetische Weise danach, sich fortwährend nicht in Positionen zu verheddern, indem er die zentralen Lehrmeinungen und Alltagskonzepte seiner Zeit nimmt und dekonstruiert.

Nâgârjuna verleiht der Leerheit einen therapeutischen Wert. Er macht sie zum therapeutischen Schlüsselbegriff. Viele seiner Aussagen erscheinen in seinem Werk als Fragen. Er fordert alle Positionen heraus und hinterfragt sie. Aber er tut dies auf eine Weise, dass er selbst keinen weiteren irreführenden "Set" von "eindeutigen Antworten" bietet. Und wenn alle eindeutigen Antworten aufhören, tritt das tiefe Verstehen aus dem Innern hervor.


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Die freie poetische Übersetzung

Das 18. Kapitel (Die Untersuchung des Selbstes) der Wurzelverse zum Mitteren Weg in der (noch nicht endgültigen) poetischen Fassung.

Wäre ich Geist und Materie,
würde ich kommen und gehen wie sie.
Wäre ich etwas anderes,
würden sie nichts mehr
über mich aussagen.

 

Bei Nâgârjuna geht es häufig um Identität und Differenz, weil wir in einer Welt leben, wo die Dinge bloß unter den Kategorien von "gleich" oder "verschieden" einen Sinn ergeben. "Was" oder "Wer bin Ich?" lautet eine häufig gestellte und häufig beantwortete philosophische Frage. Nâgârjuna beantwortet sie auf seine Weise. Er zeigt, dass eine Antwort darauf unmöglich ist. Denn im Falle der Identität des Ich mit Körper und Geist wäre das Ich genau denselben ständigen Wandlungen wie Körper, Gedanken und Gefühle unterworfen. Doch so empfinden wir unser Ich keineswegs. Es wird innerlich vielmehr als konstant empfunden, obgleich sich Körper, Gedanken und Gefühle ständig wandeln (alle sieben Jahre etwa haben sich alle Körperzellen sogar vollständig erneuert). Und die einzige Weise, etwas über das Ich auszusagen, wenn es separat von Körper und Geist existieren würde, wäre mittels meines Körpers, meiner Gedanken, meiner Gefühle. Aber auch das ist unmöglich. Denn Körper und Geist gestatten keinen "Zugang" bzw. keine Aussage zum Ich, wenn es separat davon existieren würde.

Nâgârjuna treibt uns mit solchen Argumenten in einen "Zustand", wo wir uns nicht mehr an den Gewissheiten der gewohnten Sprache festhalten können. Das Selbst kann weder auf die psychischen oder physischen Prozesse "reduziert" werden, noch ist es davon "zu unterscheiden". Doch Eines von beiden muss es sein, um verstanden werden zu können. Deshalb ist es mit unserer gewohnten Sprache nicht zu "enthalten" bzw. "nicht fassbar" (der Ausdruck "nicht fassbar" ist eine Originalaussage des Buddha).

 

Wer bin ich?

Nâgârjuna sagt hier indirekt, dass die Frage "Wer" oder "Was bin Ich?" nicht beantwortet werden kann. Es verhält sich hier wie bei jener Zen-Anekdote, mit der ein Meister seinen Schüler auf einen Tisch hinweist: "Wenn Du sagst, dass dies ein Tisch sei, bekommst Du 30 Schläge. Wenn Du sagst, dass dies kein Tisch sei, bekommst Du 30 Schläge. Was ist es?" Es geht Nâgârjuna um die Erleichterung von allen Fixierungen. Er erklärt die Dinge nicht, sondern bewegt sich vielmehr konsequent auf dem buddhistischen Befreiungspfad. Er behandelt regelmäßig die Frage von Identität oder Differenz, einfach weil diese gewohnheitsmäßigen Denk-Kategorien eine bestimmte Art von fixierendem Verhalten nach sich ziehen.

 

Was ist Mein, wenn hier kein Ich ist?
Wäre man von Selbst-Zentrierung erleichtert,
würde man nicht an Ich und Mein denken.
Dann wäre hier niemand,
der sie denken könnte.

Das Innere bin Ich. Das Äußere ist Mein.
Wenn solche Gedanken enden,
stoppt aller Innerer Zwang,
versiegt die Wiederholung,
dämmert die Freiheit.

Fixierungen bringen die Gedanken hervor,
die zwanghafte Handlungen provozieren.
Leerheit stoppt Fixierungen.

 

Fixierungen

Wir können die innen- und außengerichteten Fixierungen von "Ich" und "Mein" gewöhnlich nicht erkennen, weil sie so tief in unserer gewöhnlichen Wahrnehmung der Welt eingebettet sind. Nâgârjuna will zu diesen unbewussten Fixierungen, die uns gefangenhalten, "aufwecken". Sie werden zum Beispiel an dem Gefühl klar: "Wenn ich bloß dies noch hätte!" oder "Wenn bloß dies noch der Fall wäre!" Es ist jenes Gefühl, das Glück warte gleich um die nächste Ecke, dass dazu nur noch dieses eine "Ding" zu haben oder loszuwerden sei, um endlich wirklich glücklich zu werden.

Dieses "Wenn ich bloß ...!" läuft unbewusst meistens ab. Im Grunde sind alle Phantasien ein Symptom von Fixierung oder Innerem Zwang. Mit diesem Gefühl "Bloß das bräuchte ich noch!" spulen wir unsere kleinen Geschichten ab, wie wir es in Besitz nehmen können. Aber selbst wenn wir es bekommen, hört damit der Prozess des Inneren Zwanges keineswegs auf.

Dies ist eine psychologisch-moderne Art zu beschreiben, was der Erwachte mit "Samsâra" oder "Daseinskreislauf" meint. Es ist wie mit dem Hamster im Laufrad: Er entwickelt eine Menge von Aktivität, ohne irgendwohin zu gelangen; oder wie mit dem Freund, den Mula Nasradin besucht: Er hat den ganzen Tag scharfe Chilly-Schoten gegessen. Auf die Frage, warum er damit nicht aufhöre, antwortet er, dass er nach einer süßen Schote suche. Nâgârjuna will diesen Zyklus bzw. Wahn-Sinn beenden. Das Nirvâna ist das Ende dieses Wahn-Sinns, die Große Freiheit. Das Nirvâna ist das Leben inmitten der Welt auf eine Weise, die fest in jener Perspektive verwurzelt ist, welche den Fixierungen keinen Raum mehr lässt. Die Meditation ist das Aufspüren des Prozesses der (schmerzlichen) Fixierung im Körper, um ihn loszulassen.

Die Dinge als real existent aufzufassen, ist die wahre Wurzel allen Leidens. Diese Auffassung als real existent gegenüber dem Erlebenden heißt "Ich", und gegenüber dem Erlebten "Mein" bzw. ein getrenntes "Selbst". Das zunehmende Durchschauen der Leerheit aller Dinge von dieser vorgestellten "Ding"-fixierten Aufspaltung in das "Ich", das "Mein" oder ein getrenntes "Selbst" führt inmitten der Welt nach innen, indem es die konkreten An-Halts-Punkte für leidschaffende "Zwänge" wie Verlangen Abneigung, Neid, Eifersucht, Stolz, Eigendünkel, Aufgeregtheit und Zweifelsucht auflöst. Dieses innere Sehen bedeutet das wahre Glück des Erwachens von der großen dualistischen Illusion, das "schweigende" Glück des "Buddha", was übersetzt nur "Der Erwachte" heißt ("Buddha" ist kein Eigenname).

 

Alles ist wechselseitig durchdrungen

Die Leerheit ist der Lebensmodus, der die Tendenz zur Fixierung auswurzelt. Im Einleitungsvers heißt es: "Die Buddhas lehren das wechselseitige Durchdrungensein, um von den Fixierungen zu erleichtern".

Den Erwachten widerstrebt es, ihre Lehren auf feste Konzepte zu reduzieren. Fixierung und Festklammern entstehen immer bloß dann, wenn man die Dinge als ein "Selbst" empfindet, indem man ihre wechselseitig durchdrungene, restlos bedingte bzw. vollkommen von einem "Selbst" leere Natur ignoriert. Dieses Wahrnehmen fixierbarer oder separater "Dinge" ist unsere gewöhnliche Weltsicht voller Identitäten und Verschiedenheiten, wo alles klare Anfänge, Enden bzw. "scharfe (Selbst-) Konturen" besitzt.

Die Erwachten sprechen vom "Selbst".
Sie lehren ebenfalls das "Nicht-Selbst".
Sie sagen auch "Es gibt nichts, was entweder
das Selbst oder das Nicht-Selbst wäre".
Wenn sich folglich alle "Dinge" auflösen, bleibt nichts mehr zu sagen.
Das Ungeborene und Unaufhörliche ist bereits in sich frei.

Der Buddha sagt: "Es ist alles real", und "Es ist alles unreal",
und "Es ist sowohl real als auch unreal",
und "Es ist weder das eine noch das andere".
Denn es ist alles zutiefst erleichtert:
Nicht fixierbar durch Fixierungen,
nicht vermittelbar, nicht fassbar,
und nicht teilbar.

Weil Du weder Dasselbe bist wie die Bedingungen,
von denen Du abhängst, noch von ihnen verschieden,
bist Du weder identisch mit ihnen
(also nicht inexistent),
noch getrennt von ihnen (also nicht real existent).

(Und damit bist du selbst in Wahrheit gar kein fixierbares, getrenntes "Ich",
das als Quelle unserer gewöhnlichen Wahrnehmung aller Dinge
als ein "Selbst" dienen könnte.
)

Dies ist das todlose Lehre der Buddhas,
die sich um die Welt kümmern.

Wenn keine Buddhas vorkommen
und ihre Anhänger verschwunden sind,
bricht die Weisheit des Erwachens
ganz von selbst hervor.



Nâgârjuna bezieht sich hier also auf die klassische Dreiteilung des Pfades; nämlich den Pfad des Buddha (Vollkommen-Erwachter, Die-anderen-Befreiender), des Pratyeka-Buddha (Individuell-bezogener-Buddha), sowie des Hörers (Auf-einen-Meister-Bezogener, Sich-selbst-befreit-Habender).

Der oder die Pratyeka-Buddha erwacht durch ein individuelles, von Meistern unabhängiges Verstehen des Abhängigen Zusammen-Entstehens, der wahren Natur aller Dinge. Das Erwachen ist die Fähigkeit, die (fließende) Welt zu sehen, wie sie ist. Mit diesem Abschlussvers des 18. Kapitels legt Nâgârjuna das Kommen der Ära der Pratyeka-Buddhas nahe.

 

Stephen Batchelor war 10 Jahre buddhistischer Mönch in der tibetischen und der Zen-Tradition. Er hat zentrale Originalwerke aus dem Tibetischen übersetzt und ist Autor mehrerer Bücher:

*Mit anderen allein, Theseus.
*The Awakening of the West (das Standardwerk zur Geschichte der Begegnung von Buddhismus und westlicher Kultur).
*The Faith to Doubt (ein Plädoyer für den Zweifel gegen alle Institutionalisierung).
*Der große Tibet-Führer (preisgekrönter Tibet-Führer).
*Buddhismus für Ungäubige, Fischer (sein Bestseller).
*Verses from the Center, Riverhead.


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