Interview von Christopher Titmuss
mit Altmeister Ajahn Buddhadâsa


Februar 1988

Von einem Teil der originalen Kassettenaufnahme
übersetzt und eingeleitet
von Hans Gruber



Die mit diesem Interview behandelten Themenbereiche: Der treffende Begriff bringt die treffende Praxis / Verschiedene Arten des Anhaftens / Die gewöhnliche Wahrnehmung / Die Höchste Wahrheit hinter dem Schein / Im Strom der Dinge ist kein "Wahres Selbst" / Verschiedene Gelegenheiten zum Erwachen / Das Erwachen / Mahâyâna und Hinayâna / Die Taten und ihr Ergebnis / Einige Bücher von Ajahn Buddhadâsa und Christopher Titmuss.


A. Buddhadasa

Ajahn Buddhadâsa

(1906-1993) Thailand, einer der prägendsten Theravâda-Meister und Lehrer von Christopher Titmuss

 

Der folgende Text ist eines der wenigen Interviews, welches mit Ajahn Buddhadâsa von einem westlichen buddhistischen Fragesteller geführt worden ist. Buddhadâsa war einer der Gründermeister der Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis Vipassanâ (vgl. den Beitrag zum Vipassanâ in der Rubrik "Die Wissenschaft"). Das Gespräch ist ein seltenes Dokument dieses unkonventionellen Großmeisters in "direkter Aktion", die im aufnahmebereiten Hörer tiefe Einsichten bezweckt. Es geht hier etwa um die Frage, was im höchsten Sinne wahr und was nicht wahr oder was eine treffliche und was eine verfehlte Ansicht ist. Buddhadâsa versteht unter der Praxis des Vipassanâ auch spontane "gemeinsame Wahrheitsergründung", wie sie zum Beispiel mit diesem Interview vorliegt (an einigen Stellen wurde es entsprechend der Lehre Ajahn Buddhadâsas ergänzt, weil er in diesem Gespräch mit einem alten Hauptschüler seine Lehre für einen Außenstehenden nicht immer genügend erklärt hat).



AB: Ajahn Buddhadâsa (wörtlich "Sklave des Buddha"; Thailand, 1906-1993) ist ebenfalls ein maßgeblicher Vater des Engagierten Buddhismus in Ost und West. Neben dem Dalai Lama für den tibetischen Buddhismus und Thich Nhat Hanh für den Zen war er für den Theravâda zu seinen Lebzeiten Schirmherr des "Internationalen Netzwerkes Engagierter Buddhisten". Er gilt neben Ajahn Chah als der einflussreichste Meister in der Geschichte Thailands. Seine Bücher und niedergeschriebenen Vorträge füllen einen ganzen Raum in der thailändischen Nationalbibliothek. Er hat als junger Mönch gelangweilt den konventionellen Klosterstudien den Rücken gekehrt, um viele Jahre alleine im Walde seinen individuellen Studien der Quellen des ganzen Buddhismus und auch anderer Religionen sowie der praktischen Meditation nachzugehen.

Viele Doktorarbeiten befassen sich mit seinem ungewöhnlichen und tiefgehenden Lehrverständnis. Er hat die Kernprinzipien der Reden des Erwachten, wie sie mit den ältesten vollständig überlieferten Sammlungen im "Pali-Kanon" des frühen Buddhismus Theravâda (Lehre der Ältesten) überliefert worden sind, wieder breit bewusstgemacht. Dies hat er geleistet, indem er sie von späteren Hinzutaten durch die scholastischen Kommentare und Ausdeutungen des "Abhidhamma" oder auch kulturellen Einflüssen getrennt hat (vgl. zum Abhidhamma auch die Einleitung "Der Dharma" zu den Rubriken).

 

Ajahn Buddhadâsa (1906-1993)

Ven. Buddhadasa

 




Er ist der Vater der "Natur-Methode oder die Leerheit aller Dinge". Diese ist ein Hauptansatz der Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis Vipassanâ. Hier wird etwa die Praxis des bewussten Atmens als vollständiger Befreiungsweg gelehrt, wie in Buddhas Rede zum Bewussten Ein- und Ausatmen (Ânâpânasati-Sutta), und die natürliche Entwicklung einer Bewusstheit im Alltag betont, die andere wie sich selbst befreit (vgl. Näheres im Kursbuch Vipassana, Resümee desselben in "Hans Gruber und Aktivitäten", und das zweite Projekt in "Buchprojekte"). 

Das folgende Teilstück jener langen Interview-Aufnahme wird hier erstmals publiziert.


A. Buddhadasa

Christopher Titmuss

England, ein moderner Hauptvermittler der Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis Vipassanâ

 

CT: Ein westlicher Hauptschüler Buddhadâsas ist Christopher Titmuss. Er hat das renommierte Meditationszentrum "Gaia House" in England mitbegründet, gibt innerhalb des Engagierten Buddhismus durch seine Verknüpfung von Meditation mit Ökologie wichtige Impulse, leitet weltweit Meditationskurse (regelmäßig auch in Deutschland, vgl. Anhang) und hat eine Reihe von Büchern geschrieben.




Der treffende Begriff bringt die treffende Praxis

CT: Deine Lieblingsaussage aus Buddhas Reden lautet: "Nichts ist es wirklich wert, daran anzuhaften." Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen dieser "Nicht-Anhaftung" (non-attachment) und der "Loslösung" (detachment)?

AB: Ja, "Loslösung" ist letztlich bloß eine weitere Art des Anhaftens. Deshalb sollte man immer besser wie der Buddha sagen: "Nicht-Anhaftung".

CT: Inwiefern ist "Loslösung" denn eine weitere Art des Anhaftens?

AB: Weil im Begriff der "Loslösung" ein getrenntes "Selbst" mitschwingt. Denn eine "Loslösung" ist stets vom Anhaften eines planenden "Selbst" gespeist, und aus fehlender Innerer Freude bzw. Zufriedenheit.

CT: Meinst du, dass wo "Loslösung" gesucht wird, die Idee zugrundeliegt, dass hier "jemand" sei, der sich nun loslöse oder loslösen müsse?

AB: Genau, aus dem Anhaften des "Selbst" an das "ganz Andere" (fern von dem, woran man anhaftet), erscheint vor dem geistigen Auge eine "Loslösung".

CT: Entsteht diese "Loslösung" mithin aus Furcht, als eine Reaktion?

AB: Ja, "Loslösung" ist eine Reaktion des Anhaftens. Hier stellt sich das "Selbst" zuerst als "etwas ganz Anderes" vor (im Gegensatz zu dem, was in der Anhaftung erlebt wird), bevor im Geiste die Idee einer "Loslösung" dahin erscheint.

CT: Wie sieht dann unsere Beziehung zu den Dingen im "Nicht-Anhaften" aus?

AB: Im "Nicht-Anhaften" werden bloß die Missverständnisse gemieden und damit langsam das "Selbst" durchschaut. Ein "Selbst" zu haben, das sich weg von "etwas" hin zu "etwas ganz Anderem" und "loslösen" müsse, bedeutet Anhaften (Anhaften an ein "Selbst", dessen vorgestellten Ausgangspunkt, dessen vorgestellten Zielpunkt, sowie diesen überbrückenden Akt der "Loslösung".)

 

Verschiedene Arten des Anhaftens

CT: Der Erwachte spricht von verschiedenen Arten des Anhaftens.

AB: Es werden besonders das Anhaften an sinnlichen Genüsse, Ansichten und Missverständnissen zur Praxis erwähnt. Zu diesen Missverständnissen gehört es etwa, wenn man die ethischen Gelübde nicht für die innere Befreiung praktiziert, sondern für eine Wiedergeburt in himmlischen Gefilden. In diesem Sinne kann sogar die Achtsamkeitspraxis Vipassanâ verfehlten Zwecken dienen.

CT: Eine Form des "Ich"-Anhaftens ist es, wenn man "etwas Besonderes" werden will. Hier treibt die Furcht, ansonsten ein "Niemand" zu sein.

AB: Ja, ohne irgendeine Identität des "Ich bin" bzw. ohne das (ergreifende und ergriffene) "Selbst" ist der Geist frei. Dann ist der Geist makellos, bevor Innere Zwängen entstehen. Diese wurzeln in der Aktivität des "Ich- und Mein-Machens", im Erwecken des Gedankens bzw. Eigendünkels "Ich und Mein" aus tiefen gewohnheitsmäßigen Tendenzen. Die Freiheit von diesen Tendenzen des "Ich- und Mein-Machens" mit deren Folge des Eigendünkels bedeutet Erlösung.

CT: Manchmal entsteht das "Ich"-Gefühl mehr in Verbindung mit dem Körper, manchmal mehr mit den Gefühlen und Wahrnehmungen, manchmal mehr mit den Willensregungen, und manchmal mehr mit dem Bewusstsein.

AB: Das "Ich" ist bloß ein Konzept (lacht). Es ist kein reales "Ding". So resultieren weitere Konzepte, wie "Ich sehe", "Ich höre", "Ich esse" usw.

 

Die gewöhnliche Wahrnehmung

CT: Das "Ich" ist also ein Konzept, und kein reales "Ding". Gilt dies ebenfalls für alle materiellen Dinge? Gewöhnlich scheint es uns so, dass das eigene "Ich" wohl ein reales "Ding" bzw. eine reale "Person" wäre, oder dass dies hier wohl ein reales "Ding", zum Beispiel ein "Tisch", wäre. Was gibt uns diese Idee, wir wären diese reale "Person", bzw. dies hier wäre ein reales "Ding"? Wir glauben doch an diese Relative Wahrheit für gewöhnlich viel mehr, als dass wir die Höchste Wahrheit sehen. Im Grunde verwechseln wir so die Relative mit der Höchsten Wahrheit.

AB: Ja, die relative Wahrheit dient nur pragmatisch zur Verständigung. Sie ist keine Höchste Realität, sondern eine reine "Realitäts-Annahme" (Sammati).

CT: Ist es unser gewöhnliches Denken, das diese Realitäts-Annahme betreibt, dies heißt dieses Missverstehen der relativen als die höchste Wahrheit?

AB: Mit der Realitäts-Annahme entsteht immer die Frage "Was ist das?". Es ist die Natur des Menschen als dem ersten Lebewesen in der Evolution, dass er die Dinge zuerst als ein real existentes "dies" oder "das" einordnet, und dann zunehmend kategorisiert, klassifiziert und voneinander separiert,. Jede Klassifizierung (Paññati) verstärkt jene die Wahrheitsebenen verwechselnde "Realitäts-Annahme".

CT: Ich wiederhole: Der Geist hat also die Tendenz, die Dinge zunächst einmal als "real existent" einzuordnen, sie auf dieser Basis dann im einzelnen zu benennen und somit mehr und mehr voneinander zu trennen. Damit verstärkt sich jene ursprüngliche Realitäts-Annahme "dies" oder "das" ist doch die "(höchste) Wahrheit". In dieser Weise entsteht sicher auch unser gewöhnliches, abgrenzendes Gefühl "dies hier bin 'Ich'", aber "das dort bin 'Ich' nicht".

AB: Man haftet an irgendeiner "Bedeutung" eines "Dinges" an und bewertet es als nächstes in bestimmter Weise. So formen sich die "Begriffe"; in Übereinstimmung mit dem unbewussten, subjektiven Gefühl im Geiste des Menschen.

CT: Die Realitäts-Annahme und die Klassifizierung arbeiten also eng zusammen. Wo das eine auftaucht, wirkt als nächstes stets auch das andere.

AB: Ja, man "glaubt" etwa "Mensch" als real vorhanden. Auf dieser Basis klassifiziert man "Mensch" als "A", "B" oder "C". Die grundlegende Realitäts-Annahme kommt zuerst, und dann die Klassifizierung, welche die Realitäts-Annahme weiter verstärkt, gemäß dem eigenen Gefühl im Geiste.

 

Die Höchste Wahrheit hinter dem Schein

CT: In unserer modernen Welt entstehen somit immer mehr Realitäts-Annahmen und immer mehr Klassifizierungen. In jedem Beruf etwa gibt es zunehmende Spezialisierungsgrade mit sich ausweitenden Systemen von Klassifizierung.

AB: Aber die Höchste Wahrheit ist, dass es letztlich bloß den einen, universellen, gesetzmäßigen Strom des konkreten All-Bedingtseins "Idappaccayatâ" gibt: "Dies ist, weil jenes ist. Dies entsteht, weil jenes entsteht. Dies ist nicht, weil jenes nicht ist. Dies entsteht nicht, weil jenes nicht entsteht", wie der Erwachte gelehrt hat. In dieser Höchsten Realität sind keine Realitäts-Annahmen oder Klassifizierungen mehr, sondern immer nur dieser eine Strom des konkreten All-Bedingtseins; im Unterschied zum "Selbst"-haften, voneinander getrennten "dies" und "das".

CT: Ist dieser "eine Strom" nicht auch selbst bloß eine Klassifizierung?

AB: Wir können das konkrete All-Bedingtsein nicht als reine Klassifizierung betrachten. Der Erwachte hat die Wahrheit gesehen, wie sie im höchsten Sinne ist, und dafür einen Ausdruck gebraucht, welcher dieser realen Existenzweise aller Dinge so weit wie möglich gerecht wird. Es handelt sich hier durchaus um die Höchste Realität, die begrifflich "angenähert" wird; also nicht nur um eine reine Annahme der Höchsten Realität bzw. eine reine Klassifizierung.

CT: Was im höchsten Sinne real existent ist, hat dies weder einen Anfang noch ein Ende? Kennt dies weder Geburt noch Tod?

AB: Ja, der universelle, gesetzmäßige Strom des "dies ist, weil jenes ist; dies ist nicht, weil jenes nicht ist" hat weder Anfang noch Ende. Es lässt sich von den Dingen auch nicht sagen, sie wären "gut" oder "schlecht", "positiv" oder "negativ" (lacht). Denn aus der Sicht dieses allumfassenden Stromes beschreiben alle Gegensätze immer bloß das gleiche ewige Gesetz. So lassen sich diese Gegensätze nicht als "gut" oder "schlecht" klassifizieren. In der Höchsten Wahrheit gibt es keine Realitäts-Annahmen bzw. Klassifizierungen mehr. Diese intuitiv wachsende Einsicht führt allmählich jenseits des Einflusses von "gut" oder "böse", "positiv" oder "negativ". Hier ist der Geist authentisch frei, erlöst, emanzipiert.

 

Im Strom der Dinge ist kein "Wahres Selbst"

CT: Die upanishâdische bzw. Vedânta-Tradition lehrt, dass es die Weltseele "Brahman" sei, welche das Gesetz des konkreten All-Bedingtseins bedeute; dass das Wahre Selbst "Âtman" mit jenem "Brahman" identisch sei; sowie dass der innere Befreiungsweg bedeute, diese Erkenntnis in sich zu verwirklichen.

AB: Dies ist Hinduismus, nicht Buddhismus (lacht).

CT: Wo liegt hier das Missverständnis?

AB: Das allumfassende Gesetz des konkreten All-Bedingtseins wird hier nicht tief verstanden. So entstehen nicht-wirklichkeitsgemäße Begriffe, die im Nichtsehen der leeren Erfahrungsrealität eigenständige, separate "Dinge" als "Höchste Realitäten" postulieren. Dann behauptet man noch von ihnen, sie seien eins, postuliert mithin ein weiteres getrenntes "Ding" als "Höchste Realität".

CT: Ein Vedânta-Lehrer sagt zum Beispiel, dass das, was er überall sehe, immer bloß "er selbst" sei, lediglich mit verschiedenen "Namen und Formen".

AB: So lehrt er im Einklang mit dem subjektiven Gefühl seiner Prägung "vor" dem Denkausdruck. Dem gemäßes glaubt er zu erfahren, Demgemäßes glaubt er zu begreifen. Das Wahre Selbst gehört zum Strom des konkreten All-Bedingtseins. Er ist lediglich ein weiteres bedingtes Konzept des "Ich", das letztlich, dies heißt im Strom jener Idappaccayatâ, nicht separat bzw. real existent sein kann.

CT: Aber mit seinem Konzept vom "Wahren Selbst" scheint jener Vedânta-Lehrer ein wirklich friedvoller Mann zu sein.

AB: "Friedvoll" ist letztlich auch bloß eine Realitäts-Annahme (beide lachen). Der tief gesetzmäßige Strom des konkreten All-Bedingtseins liegt jenseits all dessen. "Friedvoll" oder "unruhig" sind nur Realitäts-Annahmen. Das reale Ding, die reale Bedeutung ist alleine dieses konkrete All-Bedingtsein. Es ist der "Körper" der Lehre des Erwachten. Versuche diesen "Körper" ganz zu verstehen" Selbst das häufig gelehrte, berühmte Gesetz des "Entstehens in Abhängigkeit" (Paticcasamuppâda) des Buddha ist auch bloß ein Grundaspekt des gesetzmäßigen Stromes des konkreten All-Bedingtseins. Dieser allumfassende Lebensstrom hat weder einen Anfang noch ein Ende. Alles, alles ist hier und jetzt in ihm gegenwärtig ...!

 

Verschiedene Gelegenheiten zum Erwachen

CT: Der Erwachte hat verschiedene "Gelegenheiten" genannt, bei denen das innere Erwachen eintreten könne: Wenn man dem Dharma zuhört; wenn man ihn weitergibt; die Meditation; sowie die Reflektion. Doch laut den alten Reden scheint das Zuhören das mächtigste Mittel von allen zu sein, um die Höchste Wahrheit zu verstehen, sogar noch mächtiger als die Meditation.

AB: Es gibt fünf Gelegenheiten, um Verwirklichungen zu erreichen: Wenn man dem Dharma zuhört; ihn verkündet; ihn rezitiert; meditiert und dabei zu Vipassanâ-Einsichten gelangt; sowie wenn man den Dharma innerlich kontempliert.

CT: Teilnehmer von Kursen berichten, dass sie häufig die Sitz- oder Geh-Meditation während des Tages lediglich als Vorbereitung für die Abendvorträge empfinden; und dass ihnen erst beim Zuhören der Vorträge das tiefste Verstehen komme. Auch in den Reden des Erwachten wird ja häufiger erwähnt, wie dessen Zuhörer unmittelbar beim Aufnehmen der Lehre Stufen des Erwachens verwirklicht haben, offenbar noch mehr als durch die Meditation.

AB: Nein, es gibt fünf gleichberechtigte Chancen, in sich die Bereitschaft zu finden, die Höchste Wahrheit zu verwirklichen. Es handelt sich dabei um jene sogenannten fünf "Bereiche der Befreiung" (Vimuttâyatana). Nur einer davon ist das Lehren, wenn man zu anderen den Dharma spricht. Dabei kann im Geiste die Bereitschaft entstehen, die Dinge wirklichkeitsgemäß zu sehen; in eben diesen Momenten. Das Rezitieren des Dharma, auch wenn man hierbei alleine ist, kann den Rezitierenden ebenfalls in die Bereitschaft versetzen, tief und befreiend zu sehen.

 

Das Erwachen

AB: Erwachen bedeutet, das konkrete All-Bedingtsein vollkommen zu schauen. Buddhas "Vier Edle Wahrheiten" vom Leiden, der Ursache des Leidens, des Verlöschen des Leidens, sowie vom Weg zum Verlöschen des Leidens, gehören auch zu jener Idappaccayatâ. Denn erst durch diesen allumfassenden Strom des konkreten All-Bedingtseins kommt es zum Leiden, zur Ursache des Leidens, sowie zum Ende des Leidens; und das wachsende "Höhere Sehen" (Vipassanâ) des universellen, gesetzmäßigen Stromes ist der Pfad zum Verlöschen des Leidens.

CT: Die logische Anordnung der Vier Edlen Wahrheiten ist doch eigentlich: Das Leiden, die Ursache, der Weg zum Ende des Leidens, sowie erst als viertes das Verlöschen des Leidens. Aber der Buddha scheint das Verlöschen als drittes zu nennen, also vor dem Weg, der bei ihm das vierte Element ist.

AB: Die Anordnung des Erwachten ist die richtige. Seiner Anordnung liegen diese vier Fragen zugrunde: Was ist es? Das Leiden. Woraus entsteht es? Der Ursache. Wozu dient es alles? Dem Verlöschen. Wodurch tritt dieses Verlöschen ein? Durch den Weg. Diese vier Fragen: Was? Woraus? Wozu? und wodurch? wirken als die Verständniszugänge zu letztlich allen Dingen! Erst durch diese vier Grundfragen können wir alles auf die tiefste, trefflichste Weise verstehen.

 

Mahâyâna und Hinayâna

CT: Als ich das letzte Mal in Bodhgâya in Indien lehrte, gab es eine öffentliche Debatte zwischen mir und einem Mahâyâna-Mönch, die von einem Moderator geleitet wurde. Geprägt vom Buddha und Dir betonte ich die direkte Möglichkeit des Erwachens, und dass und wie diese Möglichkeit tagtäglich mit uns sei. Er vertrat eine andere Ansicht; dass nämlich das Erwachen viele Leben un Anspruch nähme, dass man zunächst alle Vollkommenheiten in sich entwickelt haben müsste, und dass man auch zunächst die Fähigkeit in sich entwickelt haben müsste, mindestens vier Stunden ohne Gedanken in der Versenkung zu verharren. Er sagte, das Erwachen verlange viele Leben der Vorbereitung.

AB: "Mahâyâna" bedeutet das "Große Fahrzeug"; doch offenbar "groß" lediglich im Sinne eines Fahrzeuges für die Närrischen, die schon immer in der Mehrzahl gewesen sind. "Groß" bedeutet hier nicht etwa "tiefer" oder "höher".

CT: Viele Mahâyâna-Schüler lauschen ihren Lehrern, und glauben, was ihnen gesagt wird. Dadurch kommt es häufig zu dem Schluss: "Oh, Erleuchtung und tiefe Verwirklichungen sind noch so weit weg von mir! Dafür muss ich noch viele Leben an mir arbeiten." So wird dieser Glaube in ihnen ziemlich stark.

AB: Wie gesagt, "groß" bezieht sich hier auf die Törichten. Der Kern auch der frühen Reden des Mahâyâna ist nur das Sehen des "Nicht-Selbst" (Anattâ) der "Fünf Aggregate" (Materie, Gefühlsreaktionen, Begrifflich Bestimmtes Bewusstsein, Willensimpulse, Vorbewusste Wahrnehmung). Das Mahâyâna ist vor allem das Sehen dieser Fünf Aggregate als "leer" (shûnya) von jedem "Selbst". Viele spätere Kommentatoren der Mahâyâna-Reden erfassen diese Essenz jedoch nicht mehr, weil sie irgendein "Selbst" in den Fünf Aggregaten glauben. Das Sehen des Nicht-Selbst der Fünf Aggregate bzw. aller Dinge ist die Essenz des Mahâyâna wie des Theravâda; alleine dieses Sehen. Deshalb gibt es für mich das "Mahâyâna" oder den "Theravâda" letztlich nicht. Denn es geht immer nur um die eine Essenz: Das Nicht-Selbst, die Leerheit. Es gibt bloß den Dharma, die Wahrheit des Erwachten.

CT: Ja, in der Systematischen Sammlung des Pali-Kanons hat der historische Buddha vom "Fahrzeug des Dharma" (Dhamma-Yâna) gesprochen.

 

Die Taten und ihr Ergebnis

CT: In der Welt und besonders im Westen ist der Geist stark mit "Taten" und derem "Ergebnis" beschäftigt. So wird hier viel über die Zukunft spekuliert. Sie wird oft wichtiger als alles andere. Dies ist eine starke Tendenz im westlichen Geist.

AB: Die Zukunft ist die Zeit der Toten.

CT: Wir denken fortlaufend nach über "was ist nach jetzt?" Wir scheinen gefangen in bestimmten Zeitvorstellungen, die wir dann mit Taten ausfüllen wollen. Wie können wir in einer anderen und neuen Weise die Zeit wahrnehmen?

AB: Die Zeit sollte als eine "Ich"-Reaktion auf den jeweiligen Moment gesehen werden, wodurch wir uns diesem Moment sozusagen "entziehen".

CT: Entsteht durch diese Reaktion überhaupt erst "Zukunft"? In anderen Worten: Scheint die Zukunft erst durch diese Reaktion real, wirksam, bedeutsam?

AB: Ja, gewöhnlich folgt einem Moment der Aktion der Moment der "Ich"-Reaktion. Diese Abfolge kann alleine mit innerer Achtsamkeit in angemessene Bahnen gelenkt werden. Im Augenblick des Gefühls und Verlangens sollte die Achtsamkeit vergegenwärtigt werden, um so die gewohnheitsmäßigen, leidvollen Reaktionen nicht "abrollen" zu lassen. Dies kann bloß eine Treffliche Achtsamkeit leisten: Eine Achtsamkeit, die voller Weisheit ist. Wahre Achtsamkeit heißt Weisheit in Aktion. Sie ist die innere Pflicht eines jeden wahren "Menschen".

CT: In unserer Gesellschaft hat es einen hohen Stellenwert, Gutes zu tun, als mitfühlende Reaktion auf Leiden und Probleme.

AB: Gutes Handeln als reine Reaktion auf Leiden ist noch nicht wirklich gut. Wahrhaft gutes Handeln ist stets auch voller Weisheit (full of wisdom).

 

Einige Bücher von Ajahn Buddhadâsa und Christopher Titmuss:

Buddhadâsa, Bhikkhu: A) Mindfulness with Breathing: A Manual for Serious Beginners, Wisdom Publications, 1997 (Bewusstheit des Ein- und Ausatmens als ein vollständiger Befreiungsweg). Eine dt. Übersetzung v. Manfred Wiesberger: Ânâpânasati, die sanfte Heilung der spirituellen Krankheit, Hg.: "Buddhistische Gesellschaft München" (ISBN: 3-8311-3271-2). B) Me and Mine, Wisdom Publications (gesammelte Aufsätze zu grundlegenden Themen). C) Heartwood of the Bodhi-Tree: The Buddha´s Teaching on Voidness (die Leerheit als die Herzlehre des Buddha), Wisdom Publications, 1994. Eine dt. Übersetzung v. Manfred Wiesberger: Kernholz des Bodhibaums, Hg.: "Buddhistische Gesellschaft München" (ISBN: 3-8311-0028-4).

Titmuss, Christopher: 1) Light on Enlightenment: Revolutionary Teachings on the Inner Life, Rider, 1998 (praxisbezogener Überblick zu Buddhas Grundlehren). 2) The Power of Meditation, London: Apple, 1999 (illustriertes Werk mit angeleiteten Alltagsmeditationen); im Deutschen: Innere Kraft durch Meditation. Neue Energien für Körper, Seele und Geist, Bassermann. 3) The Buddha´s Book of Daily Meditations, Rider Paperback, 2001 (ein Zitat des Buddha für jeden Tag des Jahres). 4) Transforming Our Terror: A Spiritual Approach to Making Sense of Senseless Tragedy, Goodsfield Book, 2002.

Christopher Titmuss gibt alljährlich im Frühjahr ein einwöchiges Retreat im "Waldhaus am Laacher See" (www.Buddhismus-im-Westen.de). Er gibt auch gelegentlich Wochenend-Kurse im norddeutschen "Haus der Stille" (www.stille-roseburg.de). Die Hamburgerin Tineke Osterloh ist eine von ihm autorisierte deutsche Vipassanâ-Lehrerin. Sie assistiert ihm auf Kursen und bietet vor allem auch ihr eigenes Programm an. Informationen und Programmleaflet von: Tineke Osterloh, Blankeneser Hauptstraße 34, 22 587 Hamburg. Email: Tineke.Osterloh@t-online.de; Tel: 040 - 866 46 681.


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