"Ein von den Göttern inspirierter Weg"

Aikido, Meditation in Bewegung


Hans Gruber

"Jeder, der Aikido anfängt, erlebt den Widerspruch zwischen eigenen Verspannungen und der Harmonie der Techniken", heißt es im Faltblatt der Aikido-Schule von Lothar Darjes in Hamburg. Die ersten Monate war dieser Widerspruch ziemlich deutlich, weshalb immer wieder längere Trainingspausen entstanden, auch sehr kritische Gedanken. Aber da gab es jene alte Liebe zu den japanischen Kampfkünsten — in Erinnerung an sieben Jahre Karate als Teenager, wodurch ernste Gesundheitsprobleme wichen, wenngleich damals auch so manche Verletzungen geschahen, die zum Teil noch lange nachwirkten. Heute scheint dieses Risiko einfach zu groß. Deshalb lockt das sanfte Aikido. Und es geht tief, als Entwicklungsweg (Do) des Einklangs (Ai) mit der allverbindenden Lebensenergie (Ki) in Liebe (japanisch "Ai" bedeutet gleichzeitig Einklang oder Harmonie und Liebe).

Der in Japan hochverehrte Begründer des Aikido, Morihei Ueshiba (1883-1969), der mit zunehmendem Alter immer betonter die spirituelle Bedeutung des Aikido vermittelte, bezeichnete seine Schöpfung einmal als die "Offenbarung der Liebe", oder auch als einen "von den Göttern inspirierten Weg zu Wahrheit, Güte und Schönheit". Aikido gehört zu den japanischen Bewegungs- oder Kampfkünsten, welche außerdem die "sanfte Kunst" Jiu Jitsu, den "Weg des Ausweichens" Judo, den "Weg der nackten Hand" Karatedo, sowie die beiden aus den Samurai-Kriegstechniken entwickelten Wege des (Holz)Schwertes "Kendo" und des Bogenschießens "Kyudo" umfassen. Diese alle heißen auch Künste des "Bu-Do", was soviel wie "Der Weg des (inneren) Kriegers" oder "Der Weg des Rittertums" bedeutet. Während manche Budo-Künste eher die Männer anziehen (etwa das "harte" Karate), und andere eher die Frauen (etwa das "weiche" Jiu Jitsu), ist das Aikido für Männer und Frauen gleichermaßen attraktiv. Es wäre übrigens irreführend, die Budo-Künste als "Sportarten" zu bezeichnen. Ueshiba etwa sagt: "Viele Sportarten werden heutzutage betrieben, und sie sind gut für die körperliche Ertüchtigung. Auch Krieger trainieren den Körper, aber sie nutzen außerdem den Körper als Mittel, um den Verstand zu trainieren, den Geist zu besänftigen, sowie Tugend und innere Schönheit zu finden: Alles Dimensionen, die dem Sport fehlen." Ueshiba gilt in Japan als eine absolute Autorität zum Budo. Der Japaner Kano Jigoro, der Begründer des Judo, sagte einmal bei einem Besuch Ueshibas, tief beeindruckt von dessem Können: "Das ist meine Idealvorstellung vom Budo!"

 

Die Lehre, die Ueshibas Leben ist


Ueshiba meisterte im Laufe seines Lebens verschiedene Budo-Künste, wobei er sich wiederholt besonders dem Jiu Jiutsu, aus dem Kano Jigoro um 1880 das Judo entwickelte, dem Judo, sowie dem Schwertkampf widmete. Er schuf auf dieser breiten Grundlage und infolge seiner starken spirituellen Neigungen von klein an (vielen Zeitgenossen galt er als die "religiöseste Person Japans") allmählich seine eigene Kunst; eben das "Aiki (Bu)do". Dieses besteht aus harmonischen Körperbewegungen mit einem Partner, welche den Samurai-Schwertkampf friedlich nachbilden. Ein Aikido-Meister zeigt im Training häufig die einer jeden Aikido-Form zugrundeliegende Schwerttechnik, um somit das Aikido voll nachvollziehbar zu machen. Auch Aktionen direkt mit dem Holzschwert (bokken) oder dem Stock (jo) sind Bestandteile des Aikido. Wenn man Ueshibas Leben betrachtet, wird das tiefere Wesen oder der Zweck seiner inneren Kunst offenbar:

Die beiden großen religiösen Einflüsse seiner Lebens waren der Shintoismus und der Buddhismus. Ueshiba war der älteste Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie. Der götter- und naturverehrende Shintoismus (die Urreligion der Japaner) prägt vor allem die Mentalität der Bauern. Im "Shinto" (wörtlich "der Weg der Götter", in Gegenüberstellung zu dem im sechsten Jahrhundert aus China eingeführten "Buppo" für "Gesetz Buddhas") wird jedes unscheinbare Ding in der menschengemachten oder natürlichen Welt (ob eine Strohpuppe, ein Baum, ein Berg, ein Wasserfall, was auch immer) zum Sakralen bzw. innerliche Schauer Einflößenden, sobald ihm von den eigenwilligen japanischen Geistern, den Göttern "Kamis", das wahre und volle Leben eingehaucht wird.

Damit wird das betreffende Ding selbst zum Kami, zur Gottheit, zu Geist. Die Kamis schützen, machen den bäuerlichen Ackerboden fruchtbar, den Menschen geistig heil und körperlich gesund. Aber sie können wohl auch zerstören: Die wild tosenden Götter-Winde "Kami-Kaze" und die japanischen Krieger "Samurai" vernichteten zweimal den Großteil der mongolischen Seeflotte unter Kublai Khan, der Japan im 13. Jahrhundert zweimal erobern wollte. Es scheint ganz vom inneren Zustand, den Motiven bzw. dem Wirken der Menschen abzuhängen, in welche "Stimmung" die eigenwilligen Kami geraten ...

Man muss sie sich als verschmitzte, leicht ärgerlich werdende, aber mit allem, was sie tun, das Gute bezweckende, und übermächtige Kobolde vorstellen. Das "Koboldhafte" spielt in der japanischen Kultur, etwa im Masken- und Theaterschaffen, eine zentrale Rolle. Zum Wesen des Shintoismus gehören Riten. Denn sie sollen eine reine Atmosphäre frei von Finsternis erschaffen, um dem göttlichen Willen zum Wohle des Individuums und der Gemeinschaft den Weg zu ebnen, dies heißt um unseren "reinen Urzustand" wiederzugewinnen. Der Shintoismus kennt keine Glaubensbekenntnisse, Sittenlehren oder Gottesgebote. Seine Welt ist begriffslos, numinos, alleine dem Intuitiven und Künstlerischen zugänglich. Eine Shinto-Weisheit besagt: "Wer im Herzen dem Weg der Wahrheit treu bleibt, dem helfen die Götter, auch ohne alles Beten und Opfern."

Während des zweiten Weltkrieges hat Ueshiba nach universellen Prinzipien den "Aiki-Schrein" erbaut, worin 43 Shinto-Kamis als Schutzgötter des Aikido verehrt werden. In Ueshibas spirituellen Versen ist häufig von jenen "Göttern" die Rede. Denn sie verwandeln eben auch die "unscheinbaren" Formen des Aikido ins Sakrale und Ehrfurchterweckende, wenn der Mensch die hohe Intention dieser inneren Kunst versteht - "im Herzen dem Weg der Wahrheit treu bleibt". Auch das Aikido ist letztlich bloß eine Art Ritus, der eine "reine Atmosphäre" erschaffen will, um das heilende und göttliche Wirken inmitten der Welt zu ermöglichen. Ähnlich wie das Shinto und ebenfalls der Zen Konzepten eher abgeneigt gegenüberstehen, sind auch die Aikido-Meister häufig wortkarge "Aktionssprachler".

Aber die Japaner sind stark ausgeprägte Synkretisten bzw. Verbinder. Der im sechsten Jahrhundert nach Japan eingeführte Buddhismus hat ihr Weltempfinden ähnlich stark wie der Shintoismus geprägt. Im Alter von sieben wurde Ueshiba von seinen Eltern in einen buddhistischen Tempel geschickt, um die konfuzianischen Klassiker sowie die buddhistischen Schriften zu studieren. Er träumte zu jener Zeit im Schlaf soviel von einem buddhistischen Heiligen, der in wundersamen Geschichten auftauchte, dass es seinen Vater zu beunruhigen begann. So brachte er den Spross mit Sport und den Kampfkünsten in Berührung. Ueshibas zunehmend intensives Praktizieren der Budo-Künste eröffnete ihm den tief konzentrierten, aber zugleich gelassenen oder entspannten Geist des Zen, das "Hineinfinden" in die körperlich-geistige "Mitte" und die entschlossene Suche nach "Erleuchtung" (während das Auffinden der körperlich-geistigen Mitte und die individuelle Suche nach Erleuchtung im Shintoismus nicht zum Thema werden).

Der Zen galt in Japan bereits seit dem 12. Jahrhundert als die "Religion der Samurai" (so die Japanologin Ulrike Thiede). Aus den höchst fokussierten Kriegstechniken der Samurai mit Schwert und Bogen waren die Budo-Künste hervorgegangen. Der klar-schlichte, voll gegenwärtige und tief intuitive Zen-Geist (des Kriegers) hat in der japanischen Geschichte machtvoll gewirkt, nicht bloß im Budo. Die ganze Kultur Japans — etwa in der Raumgestaltung, Teezeremonie, Blumensteckkunst, Architektur, dem Theater, der Malerei oder Haiku-Kurz-Poesie — ist tief davon geprägt. "Das leise Tröpfeln moosigen Wassers aus der Spalte im Bergfelsen. Auf diesem klaren stillen Weg gehe ich durch die Welt", beschreibt etwa Zen-Meister Ryokan (13. Jh.) das große Ideal. Die Samurai waren 1853, als die Amerikaner die Öffnung Japans erzwangen, die Gelehrten und Lehrer des Landes (nach einer 200-jährigen landesinternen Friedensperiode). Nun strömten sie mit der gleichen Entschlusskraft und Konzentration des Zen, womit sie früher für ihre Lokalfürsten gekämpft hatten, in das Abendland aus; und eigneten sich dort binnen kurzem das wissenschaftliche und technische Wissen voll an. Nach ihrer Rückkehr gründeten sie die ersten Unternehmen. Hier liegt die Quelle der enormen Wirtschaftsmacht Japan.

Auch der Buddhismus und der Zen haben Ueshibas Schöpfung Aikido tief geprägt. Er ging häufig, und bereits in der Blüte seines Lebens, in die Einsamkeit der Berge, um sich dort der intensiven, stillen Meditation zu widmen 8wie es buddhistische Meister seit jeher getan haben). Er sagte: "Manchmal ist es nötig, in die Berge und versteckten Täler zu gehen, um die Verbindung zur Quelle des Lebens wiederherzustellen." Mit 42 hatte er hier eine Erleuchtungs- oder Einheitserfahrung beim Bad in einer Wasserquelle.

Danach galt er durch seine Intuition und Meisterung der "Ki"-Lebensenergie in der Kunst des Budo als unbesiegbar; was sich in vielen, auch filmisch dokumentierten Kämpfen erwies, sogar gegen mehrere Gegner. Während des zweiten Weltkrieges bekleidete er zuerst hohe Ämter. Er wurde von führenden Militärs oder dem Premier um Rat aufgesucht. Doch er legte diese Ämter 1942 wieder nieder, angewidert von der Kriegsgewalt, und auch krankwerdend dadurch. So zog er sich mit seiner Frau in einsame Waldgebiete zurück. Das war nicht im Geiste des kaisertreuen, pflichtgebietenden "Staats-Shinto", wohl aber im Geiste des Friedens im alten Buddhismus. In diesem weltweit besonders gewaltvollen Jahr 1942 gab Ueshiba seiner "Gegen-Kunst" gegen alle Gewalt ihren Namen: "Weg des Einklangs mit der allesverbindenden Lebensenergie in Liebe", also Ai-Ki-Do.

Ueshiba war einerseits klar Pragmatiker. Er betrieb jung eine eigene Firma, hieß später "Soldatenkönig", wurde im japanisch-russischen Krieg wegen Tapferkeit befördert und bildete zeitweise sogar an der Militärakademie aus. Zu seinen Schülern gehörten bekannte Persönlichkeiten, Admiräle und der Kronprinz. Er erhielt vom japanischen Kaiser Hirohito eine bloß wenige Male verliehene Auszeichnung. Andererseits war er auch ein glühender Idealist: Er beteiligte sich jung an einem Volksaufstand gegen ein ungerechtes Gesetz. 1910 initiierte und leitete er eine große Siedlergruppe, welche die bis dahin ungenutzte nördliche Insel Hokkaido mitbesiedelte. Dort machte seine Gruppe Brachland unter schwierigsten Bedingungen urbar, betrieb erfolgreich Viehwirtschaft und errichtete eine Infrastruktur. Später folgte Ueshiba dem religiösen Führer Deguchi Onisaburo, welcher "die Besänftigung des Geistes und die Rückkehr zum Göttlichen" lehrte. Bei ihm verwaltete er erneut eine große Parzelle Land, die er neben dem Aikido-Unterricht bebaute. 

Entsprechend seinen bäuerlichen Wurzeln und der Naturverehrung des Shinto lehrte er, dass eine tiefe Einheit von Budo und Landfruchtbarmachung bestehe. In einer Gruppe mit Onisaburo zog er 1924 sogar in Richtung Mongolei, wo sie ein auf religiösen Geboten beruhendes "gelobtes Land" für die Welt aufbauen wollten. Auf dem Wege dahin wurden sie von Chinesen festgesetzt und beinahe exekutiert. Ueshiba machte zu jener Zeit zunehmend transzendente Erfahrungen. Er konnte etwa in einem Schützengraben kleine Lichtblitze auf seiner Seite sehen, wo die Geschosse gleich einschlagen sollten. Zurück in Japan wurde er von einem Marineoffizier und Kendo-Meister herausgefordert, den er kampflos besiegte. Denn er wusste vor jeder Aktion, wo sein Gegner hinschlagen würde. Er konnte Angreifer problemlos entwaffnen. Einen Sumo-Meister zum Beispiel hielt er durch die Meisterung der alldurchwirkenden Lebensenergie mit einem Finger zu Boden, was er in anderen Kämpfen mehrfach wiederholte, auch ohne Körperkontakt.

Es folgen einige der spirituellen Verse Ueshibas (die "Kunst des Friedens", die "Kunst des Kriegers" und "Schwert" meinen das Aikido oder dessen alltagsbezogenes Urprinzip):


* Studiere, wie das Wasser in einem Strom zu Tale fließt, weich und frei zwischen den Felsen. Lerne auch von den heiligen Büchern und weisen Menschen. Alles, darunter die Berge, Flüsse, Pflanzen und Bäume, sollte zu Deinem Lehrer werden. Erschaffe Dir jeden Tag neu, indem Du Dich mit Himmel und Erde bekleidest, mit Weisheit und Liebe wäschst und Dich in das Herz der Mutter Natur einfügst.

* Das einzige Heilmittel gegen den Materialismus ist die Läuterung der sechs Sinne (Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper und Geist). Wenn unsere Sinne beladen werden, wird unsere innere Wahrnehmung abgewürgt. Je mehr dies passiert, desto stärker werden unsere Sinne verunreinigt. Dies schafft die ganze Unordnung der Welt; es ist das größte von allen Übeln. Läutere Dein Herz, befreie die sechs Sinne und lasse sie ohne Blockierungen wirken. Dann werden Dein ganzer Körper und Geist von innen her leuchten.

* Jeder Meister, gleich in welcher Zeit und an welchem Platz, vernahm den inneren Ruf und kam in Harmonie mit Himmel und Erde. Es gibt viele Pfade, die zum Gipfel des Berges Fuji führen, aber es gibt bloß einen Gipfel — die Liebe.

* Kriegerschaft gebiert natürliche Schönheit. Die subtilen Techniken eines Kriegers entstehen so natürlich wie das Kommen von Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Kriegerschaft ist nichts anderes als die Vitalität, die alles Leben erhält.

* Alles Leben ist eine Manifestation des Geistes, eine Manifestation der Liebe. Die Kunst des Friedens ist die reinste Form dieses Urprinzipes. Ein Krieger gebietet allem Kämpfen und Hadern Einhalt. Wenn das Leben siegreich ist, gibt es Geburt. Wenn es durchkreuzt wird, gibt es Tod. Ein Krieger steht im Kampf für Frieden, auf Leben und Tod.

* Schmiede den Geist gemäß dem göttlichen Willen und komme zum höchsten Erwachen. Der göttliche Wille, der unseren Körper und Geist durchdringt, heißt "Aiki". Schleife dieses Schwert, und verbreite dessen Glanz in der Welt.

* Fördere und verfeinere den Geist des Kriegers, indem Du ganz der Welt dienst. Erhelle den Pfad, in Einklang mit Deinem inneren Licht.

 

Die drei Namensteile "Ai" (Einklang, Liebe), "Ki" (allverbindende Lebensenergie) und "Do" (Entwicklungsweg) haben in den Lehren des Buddha eine tiefe Entsprechung:

Der Weg "Do" entspricht dem "Dharma" (Das, was trägt), der Name des "Erwachten" (Buddha) für ein inneres Leben, das in intuitiven Einklang mit dem universellen Naturgesetz kommt (nämlich dass alles "Selbst"-hafte Empfinden, Denken oder Verhalten Leiden, Angst und Unruhe bringt). 

Die allverbindende Lebensenergie "Ki" entspricht den "Drei Daseinsmerkmalen" des Buddha, die er bereits mit seiner zweiten Rede betont hat (die allgegenwärtige, direkt erfahrbare Grundwahrheit, dass alle Phänomene flusshaft-vergänglich, nicht-tragfähig bzw. nicht das "Ich", das "Mein" oder ein getrenntes, greifbares "Selbst" sind). Wenn man diese Drei Daseinsmerkmale aus wachsender Bewusstheit unmittelbar versteht, befreien sie (die allverbindende Lebensenergie von aller Entzweiung durch die Sicht des "Selbst" und "Mein" und den daraus hervorgehenden "Inneren Zwängen"). 

Einklang "Ai" entspricht Buddhas Befreiungspfad von Ethischer Motivation, Geistiger Ruhe und Intuitivem Sehen. Der Erwachte bezeichnet die acht Glieder dieses inneren Weges (Sicht und Entschluss; also intuitive Einsicht; Rede, Tat und Lebenserwerb; also Ethische Motivation; sowie Bemühung, Achtsamkeit und Sammlung; also Geistige Ruhe) als "sammâ". Dieses Pali-Wort bedeutet "in eins verbunden" oder "zusammengehend". Folglich sollen Sicht und Entschluss; Rede, Tat und Lebenserwerb; sowie Bemühung, Achtsamkeit und Sammlung in Einklang kommen - eben mit jenen Drei Daseinsmerkmalen, dem wahren Wesen aller Dinge, der allverbindenden Lebensenergie "Ki", die dadurch immer weniger in getrennte, greifbare "Dinge" aufgespalten wird.


Nandimitra, Schüler des Buddha.
Die Pagode auf der Hand ist der Hinweis, dass der Erwachte zeitlos gegenwärtig ist.

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Das Wesen des Aikido


Das Aikido besteht aus zahlreichen harmonischen Ausweich-, Zug- und Drehbewegungen, mit welchen dem "Angriff" eines Partners begegnet wird, aber ohne jede Konfrontation. Ueshiba betont: "Aikido ist das Prinzip, keinen Widerstand zu leisten. Ohne Widerstand bleibt es siegreich. Diejenigen mit hadernden Gedanken werden sogleich besiegt. Die Kunst des Friedens ist unbesiegbar, weil sie mit nichts im Hader liegt."

Der zu Fall kommende Partner heißt "Uke" oder "Empfänger der Technik". Er startet zwar den Angriff, der jedoch auf ihn selbst zurückgelenkt wird. Der Angegriffene oder Abwehrende ist also der eigentlich Aktive, als der "Tori" bzw. "Ausführende der Technik". Er bringt den angreifenden Uke aus dem Gleichgewicht, indem er ihm kein Ziel darbietet, dies heißt die "schnelle" Angriffsenergie des Uke an sich vorbeischießen lässt und im dadurch beim Uke entstandenen Ungleichgewicht flexibel-weich an ihn "zurückgibt". Den Abschluss dieser Tori-Aktion bilden gewichtslos anmutende Wurf- oder Hebeltechniken.

Dem Beobachter erscheint eine gekonnte Aikido-Form als ein dynamisch-leichter Fluss ohne Fixpunkte. Damit soll die Lebensenergie, die häufig "eng" den schnellen "Ich- und Mein"-Impulsen nachhechtet, von den fixierten Impulsen befreit werden. Der Aikidoka lernt durch die harmonischen Bewegungsvorgaben (in bewusster Koordination mit klarer und tiefer Atmung) alle starren Bahnen von Denken oder Bewegung zu verstehen und somit loszulassen. Er lernt dies, weil alles Starre dem harmonischen Aufbau der Aikido-Formen einfach widerspricht. Jede Fixierung (ob als Ehrgeiz, es genau richtig machen zu wollen, was die Bewegungen abgehackt macht, als "Kopf", Wünsche, Orientierung an anderen, Beeindruckenwollen, oder Bedenken, dass jemand Anstoß finden könnte) hemmt den geschmeidigen, freien bzw. spontanen Fluss unserer natürlichen Bewegungen. Das Aikido ist rund. Ueshiba: "Kreisförmige Bewegungen sind die Basis des Aikido. Ein Kreis symbolisiert die Leere. Sie ist der ursprüngliche Zustand des Geistes."

Der Partner wechselt im Aikido häufig, um dieses gekonnte Zusammenspiel unter immer wechselnden Bedingungen (wie im gewöhnlichen Leben) zu erlernen und zu "bewähren". Denn es sind unsere unterschiedlichen Reaktionen auf die unterschiedlichen Menschen, die es immer wieder als Fixierungen bzw. Störungen zu verstehen und loszulassen gilt. Dann kommt es zum körperlich-geistigen Fluss im Individuum wie mit dem Partner. Dies ist die tiefste Dimension des Aikido: Dessen Bewegungsfluss "fügt sich" einfach der wahren Realität der sich ständig verändernden oder fließenden Welt, passt sich ihr leichtflüssig ein. So ist das Aikido ein bewegtes und bewegendes "Studieren" bzw. Sich-Vergegenwärtigen der wahren Realität, die dem schnell fixierenden und fixierten Alltagsgeist entgeht. Beim Aikido geht es trotz seiner Weichheit zugleich um eine höchstmögliche Präzision. Die Bewegungen sollen spielerisch-leicht, aber tief konzentriert und geistesgegenwärtig fließen. Man stelle sich einen umherziehenden Samurai im mittelalterlichen Japan vor, der tagträumt oder in Wünschen und Gedanken hängt. Beim nächsten Konflikt mit dem scharfen Schwert, der ihm jederzeit widerfahren konnte, wäre er tot.

Es ist dieser Geist des Ganz-im-Augenblick-Seins, des Die-Mitte-Findens, der ungeteilten Konzentration, Geistesgegenwärtigkeit und gelassenen Entspanntheit, welcher das Aikido ausmacht. Es ist dieser Geist, worin die Schwertkunst der Samurai friedlich umgewandelt wird. Hier gibt das Aikido den Geist des Zen wieder, jener "Religion der Samurai". Es geht beim Aikido um das In-die-stille-Mitte-Kommen, um zunehmend zentrierte Bewegungen, die (mit lockerem und geradem Rücken ausgeführt) in der eigenen Körpermitte "Hara" zu verankern sind. Sie sollen aus einem freien, tiefen Ein- und Ausatmen geschmeidig, leicht und präzise ablaufen, ganz wie mit einem scharfen Schwert.

Wenn man allmählich in diesem harmonischen Bewegungen aufgeht, wie sie in jeder Aikido-Technik angelegt sind, entsteht der gewisse weiche Fluss, und somit auch eine erweiterte "Intuition". Im gleichen Maße, wie dies geschieht (mithin das starre "Ich"-Gefühl in seinen unbewussten Äußerungen schwindet und bloß noch das reine Ausführen der Bewegungen bleibt), kommt es mit dem Gegenüber wie in der ganzen Gruppe zu einem unverkennbaren Einheitsgefühl. Es tritt unscheinbar langsam hervor, weshalb Lehrgänge über ein Wochenende oder länger im Aikido stark verbreitet sind. Über die konkreten Bewegungen die subtilen Facetten des "Ego" allmählich zu sehen und loszulassen, ist für viele sicher der besondere Reiz dieser hohen inneren Kunst. Diese spirituelle Intention, die hier aber immer praktisch über das Machen zu verstehen ist (weniger explizit "gelehrt" wird, wegen jener auffälligen Wortkargheit bzw. Aktionssprache der Aikido-Meister), wird mit den poetischen Versen des Begründers Ueshiba bestens deutlich. Sie zeigen ebenfalls, wie stark Ueshiba dem Konzept des "Kriegers" und "Kampfes" eine reine Friedensbedeutung gab (die "Kunst des Friedens", die "Kunst des Kriegers" und "Schwert" in seinen Versen bezeichnen das Aikido oder dessen alltagsbezogenes Urprinzip):

 

* Die Lebensenergie (Ki) ist allesdurchdringend, und ihre Kraft grenzenlos. Die Kunst des Friedens gestattet es uns, dieses gewaltige Reservoir an universeller Energie wahrzunehmen und innerlich zu erschließen.

* Halte Deinen Geist hell und klar wie den weiten Himmel, den großen Ozean oder den höchsten Gipfel, also leer von Gedanken. Lasse Deinen Körper von Licht und Wärme getragen sein. Fülle Dich mit der Macht der Weisheit und Erleuchtung.

* Verschmilz den Atem des Himmels und den Atem der Erde mit Deinem eigenen, damit er zum Atem des Lebens wird. Alle Prinzipien von Himmel und Erde wirken in Dir. Das Leben ist die Wahrheit. Dies wird immer so sein. Alles im Himmel und auf der Erde atmet. Der universelle Atem ist der Faden, welcher die gesamte Schöpfung zusammenflicht. Wenn die unendlichen Variationen des allverbindenden Atmens spürbar werden, kommen die individuellen Formen der Kunst des Friedens zur Geburt.

* In Wahrheit ist das Herz des Menschen von der Seele in Himmel und Erde nicht zu trennen. Halte in Deiner Praxis immer diese innere Wechselbeziehung von Himmel und Erde, Wasser und Feuer, Ying und Yang aufrecht.

* Die Kunst des Friedens ist Medizin für eine kranke Welt. Es gibt Übelwollen und Unordnung in der Welt, weil die Menschen vergessen habe, dass alle Dinge von einer einzigen Quelle ausgehen. Komme heim zu dieser einzigen Quelle. Lasse alle um das Selbst zentrierten Gedanken, kleinliche Begierden und Ärger fahren.

* Die Essenz der Kunst des Friedens ist, in Einklang mit Deiner Umgebung zu kommen, und somit den inneren Weg von allen Hindernissen freizumachen.

* Friede tritt mit dem Fluss der Dinge hervor. Sein Herz gleicht der Bewegung des Windes und der Wellen. Der innere Weg ähnelt den Venen, worin das Blut durch unseren Körper zirkuliert, indem es dem natürlichen Fluss der Lebenskraft folgt.

* Du bist zu keinem anderen Zweck hier auf Erden, als Deine innere Göttlichkeit zu verwirklichen und Deine eingeborene Erleuchtung zu manifestieren. Fördere Frieden in Deinem Leben, und wende diese Kunst dann auf alles an, was Dir begegnet.

* Das Herz kriegerischer Tapferkeit ist Mut, Weisheit, Liebe und Freundschaft, symbolisiert durch Feuer, Himmel, Erde und Wasser. Töricht ist, wer die physischen Aspekte der Kriegerschaft betont. Denn die Macht des Körpers ist begrenzt.

* Wenn Du Dich mit der wahren Leerheit der Dinge innerlich verbindest, wirst Du die Kunst des Friedens ganz verstehen.

* Um die Kunst des Friedens tief zu praktizieren, musst Du Deinen Geist beruhigen und zur inneren Quelle zurückkehren. Dafür ist es notwendig, Übelwollen, Eigennutz und Begehren aufzulösen, sowie Dank zu empfinden für die Gaben, die Du vom Universum, Deiner Familie, der Mutter Natur und Deinen Mitmenschen erhalten hast.

* Der Weg des Friedens ist unermesslich weit. In ihm spiegelt sich das große Muster der verborgenen wie der äußeren Welten. Ein Krieger ist ein lebender Schrein des Göttlichen, ein Mensch, welcher dem großen Zweck zu Diensten ist.

* Die Kunst des Friedens benutzt keine Waffen oder brutale Kraft, um erfolgreich zu sein. Wir bringen uns mit ihr in Einklang mit dem Universum, erhalten den Frieden, nähren das Leben, und verhindern Tod oder Zerstörung. Der wahre Sinn des Wortes "Samurai" bedeutet, wer der Macht der Liebe dient und ihr innerlich folgt.

* Der Himmel ist dort, wo Du stehst. Und dort ist auch der Platz, um zu "trainieren".

* Die Wirtschaft ist die Grundlage der Gesellschaft. Mit einer stabilen Wirtschaft entwickelt sich die Gesellschaft. Die ideale Wirtschaft verbindet das Spirituelle und das Materielle. Die besten "Waren", um Handel zu treiben, sind Ehrlichkeit und Liebe.

* Umgeben von einem Wald feindlicher Speere, tritt tief ein, und lerne Deinen eigenen Geist als Schild zu gebrauchen.

* Links und rechts, Schwertschläge und Gegenhiebe: Lasse das alles sein! Erfasse den Geist deiner Gegner, und zerstreue sie dadurch alle.

* Aufrichtigkeit: Pflege diese Tugend, und erkenne die vollkommene Wahrheit in der Einheit des Sichtbaren wie des Verborgenen.

* Tief und geheimnisvoll ist der großartige Weg des Schwertes. Pflanze sein Feuer und sein Licht in Dein Herz.

* Durch die Tugend des Übens werden Körper und Geist erleuchtet. Wenn das Lernen oberflächlich wird, folge der Führung des Schwertes mit Körper und Geist.

 

Im Aikido besteht der Kampf im Nicht-Kämpfen. Ueshiba: "Der beste Kampf ist derjenige, den man nicht kämpft"; den man nicht beginnt oder, wenn er nicht zu vermeiden ist, im aktiven "Nicht-Kämpfen" für beide Seiten undestruktiv beendet. Hier gibt es keinen "Sieger" oder "Verlierer", sondern bloß zwei Unversehrte und Lernende. Im Aikido geht es um Einswerden — innerlich dadurch, dass der Übende mit den Formen seiner Kunst so verschmilzt, dass sie zu natürlichen Bewegungen werden, er mithin mit seinem Tun eins wird (im Aikido wie im Alltag). Ein Urprinzip des Aikido ist Natürlichkeit. All seine Formen "lehren" im Grunde alleine, wie man durch Lockerheit, freies Atmen, In-unserer-Mitte-Sein und Spontaneität in den "Fluss der Dinge" kommt.

Der Berliner Aikido-Meister Gerhard Walther nennt dies: Das-Selbst-Vergessen und Das-Selbst-Verwirklichen (was bei Lao Tse, den er zitiert, dasselbe ist), dies heißt Erwachen, "Eintauchen in die Zeitlosigkeit des Augenblickes". Aber es geht im Aikido ebenfalls um Einswerden nach außen, indem der Angreifer und der Abwehrende zunehmend harmonieren. Die Einfühlung und Kontaktaufnahme zwischen ihnen soll so weit gehen, dass keine Lücke bleibt, woraus ein zerstörerischer Angriff entstehen könnte: "Wie der Mond auf dem stillen See", beschreibt ein alter Schwertkunstmeister diese Art von Kontakt. Laut einer alten Geschichte standen sich einst zwei Schwert-Großmeister mit gekreuzten Schwertern lange regungslos gegenüber. Schließlich wurde der "Kampf" als unentschieden beendet. Bei diesen Großmeistern hätte die kleinste Bewegung eine Lücke geschaffen, welche der andere sofort treffsicher genutzt hätte; und beide wussten dies.

Das Aikido bedeutet die ethische Umwandlung der Kriegskunst Schwertkampf (mit ihrem Zweck "Sieg" gegen einen "Gegner") in eine Bewegungsmeditation mit dem Zweck des In-den-freien-Fluss-Kommens (in sich selbst wie mit dem Partner). Es geht hier nicht um Sieg durch die Willensmacht oder geschickte Technik des Ego, sondern um deren Loslassen(müssen) unter den harmonischen Vorgaben dieser "Meditation in Bewegung". Dadurch kommt es zur Einheit mit sich und dem anderen, wird die Konfrontation des äußeren Schwertkampfes zur inneren Lösung der Fixierungen (dies heißt zum Fluss mit dem Partner, der bis zu einer Art Verschmelzung gehen kann). Doch wenn die Urprinzipien des Aikido verinnerlicht werden, ist diese Kunst mit ihrem zentrierten, wachsamen Mitgehen auch effektiv, um einen echten Kampf "gewinnbringend" zu beenden.

Morihei Ueshiba meinte gegen Ende seines Lebens (auf Reisen in den USA, wohin er im Jahre 1961 nach Einladung des Aikido-Verbandes kam): "Bisher blieb ich in Japan und baute hier eine 'goldene Brücke', um Japan zu vereinen. Jetzt möchte ich auch eine Brücke erbauen, welche die verschiedenen Länder der Welt durch die im Aikido enthaltene Harmonie und Liebe zusammenbringt. Ich denke, dass Aiki als der Nachkomme der Kampfkünste die Menschen dieser Welt in Harmonie, also dem wahren Geist der Kampfkünste, vereinen, und die Welt in echter Liebe umschließen kann." Ueshiba betrachtete den "Weg des Rittertums" (Budo) alleine als den festen Willen, geistige Ruhe, Aufrichtigkeit, Güte und Schönheit inmitten der Welt zur Blüte zu bringen.

Am 26. April 1969 entschlief er friedlich im Alter von 86 Jahren. Kaiser Hirohito verlieh ihm posthum eine weitere Auszeichnung. Ueshiba wurde von Künstlern auch schon selbst als ein Shinto-Kami dargestellt, der im Besitz der "drei heiligen Schätze" friedensstiftendes Schwert, Spiegel der Erleuchtung und Juwel der Perfektion ist. In seinem Leben sollte sich bewahrheiten, was sein Vorname nach seiner Geburt bereits ankündigte: "Morihei" bedeutet "Unendlicher Friede". Sein Sohn, Kisshomaru Ueshiba, schrieb zum seligen und freien Todesantlitz seines Vaters: " ... kehrte zum Ursprung zurück."


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