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Die Genüsse des Vorabends fordern ihren Tribut,
als es am nächsten Tag mit dem Drahtesel weitergeht. Der Blick
schweift über den majestätischen Biwa-See, wie er von waldbedeckten
Hügeln und schattigen Hainen gesäumt wird. Ein würzig
duftender Seewind weht ins Gesicht. Das Bad und die Sonne am Strand
klären auch den Kopf von Michael Zimmermann, dem japankundigen
Radtouristen. Er promoviert im nahen Kyoto (dem Startpunkt der Tour)
zur "Buddha-Natur", wie der Buddhismus das Wesen des Menschen
sieht. Das gibts doch nicht! Diese Erkundungsfahrt ins ländliche Japan bietet jeden Tag neue Überraschungen. An einer winzigen Kreuzung etwa steht eine zufrieden dreinblickende Frau. Sie trägt eine prächtige Uniform mit großen Plaketten und regelt den Nicht-Verkehr. Voller Hingabe erfüllt sie ihre Pflicht gegenüber den beiden einsamen Radfahrern. Diese Szene erinnert an ein Erlebnis zu Beginn des Urlaubes: In der Vorstadt von Kyoto geleitete ein Mann vor einer vollkommen gefahrlosen Baustelle die vollkommen nicht bedrohten Passanten vorbei, indem er besorgt schützend seine Hände vor sie hielt. "Viele Firmen beschäftigen solche Mitarbeiter,
die vom Chef und den Kollegen gleich behandelt werden", erklärt
es Michael. Sie haben überflüssige Jobs. Aber damit wird auch
den Menschen, die keine anspruchsvolleren Arbeiten machen könnten,
noch ein Dienst an der Gemeinschaft ermöglicht. Ein solcher Dienst
ist in Japan für das Selbstwertgefühl entscheidend. "Was
hier zählt, ist das Maß des Einsatzes für die Gruppe,
nicht das Maß an Fähigkeiten". Auch hat das Mitgefühl
in dem in Japan und im größten Teil Asiens verbreiteten Buddhismus
eine zentrale Bedeutung. Das tibetische Wort für das abendländische,
neutral beschreibende Wort "Mitgefühl" lautet: "Der
König des Herzens". Das japanische Gruppen-Ich Die starke Gruppeneinbindung des einzelnen in Japan bedeutet auch eine gewisse Stressfreiheit. Es gibt hier eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt. Besonders im ländlichen Japan begegnen viele, die mit über Achtzig noch quicklebendig sind. Mit strahlenden Gesichtern hinter weißen Leinentüchern und unter breiten Hüten als Sonnenschutz begrüßen sie die Vorbeiradelnden etwa aus den Reisfeldern. Der sinnenfrohe Shintoismus, die Urreligion der Japaner, sowie der gelassene Buddhismus sorgen für diese augenfällige Zufriedenheit. Im Gespräch erklärt Michael das "Gruppen-Ich" der Japaner näher: Von den "Arbeitsfamilien" wird höchste Leistung nach außen erwartet, vor allem gegenüber den Nicht-Japanern. Aber innerhalb dieser "Familien" entfällt der Stress von gegenseitiger Konkurrenz, Ellbogenverhalten oder ängstlichem Misstrauen. Der Chef verhält sich häufig wie ein väterlich besorgter Familienvater, welcher zum Beispiel die Ehen der noch unverheirateten Angestellten einfädelt. Oder Michael berichtet von einer Firma, wo ein gemeinsam angeschaffter Hund, der von allen gehätschelt und umsorgt wird, zwischen den Schreibtischen herumschnüffelt. In Japan bestimmt der alte Konfuzius (551-479 v. Chr., China) die Arbeits- und Familienrollen: Hier gilt unerbittlich Gehorsamspflicht für die Untergebenen und Fürsorgepflicht für die Chefs. Von China ausgegangen prägt der Konfuzianismus das gesellschaftliche Leben in ganz Fernost. Nach der Arbeit versammeln sich die Kollegen noch in lockerer Runde. Zu diesem Zwecke geht es nun in eine jener zahlreichen Essbars "Izakaya". Dort ist dann schon einmal vorsichtige Kritik möglich. Die Stammgäste haben namentlich beschriftete Alkoholflaschen, welche für sie auf den Regalen hinter der Theke stehen. Erst gegen 22 bis 23 Uhr fährt man schließlich nach Hause zu den Privatfamilien. Zu dieser Zeit sind die U-Bahnen voller "Salary Men" mit ihren Anzügen und Krawatten. Nur die Länge der Firmenzugehörigkeit entscheidet
in Japan über den Rang in den Firmen; gemäß dem traditionellen
"Rolltreppen-Prinzip". Es gilt auch für die japanischen
Colleges und Universitäten, wo jeder am Ende mit "gut"
absolviert, der dort einmal Aufnahme gefunden hat. Ausgesiebt wird lediglich
durch die je nach Ruf des Bildungsinstitutes manchmal äußerst
schwierigen Aufnahmeprüfungen. Das Rolltreppen-Prinzip stammt aus
den buddhistischen Klosterorden Asiens, wo es seit dem Buddha (6.-5.
Jh. v. Chr., Indien) die Hierarchie regelt. Kurzausstiege Weiter geht die Radtour durch das Land. Dabei sind häufig Angler zu sehen. Wo immer in Japan Wasser ist, ob verschmutzt oder sauber, in der Stadt oder auf dem Lande, steht garantiert ein einsamer Angler in seinen hohen Stiefeln. Das Angeln ist ein willkommener Kurzausstieg aus dem so strengen konfuzianischen Pflichtkorsett. Zu diesen Kurzausstiegen gehört auch das "Pachinko"-Spiel,
das nicht einmal der landeskundige Michael durchblickt. Abends lockt
es zahlreiche Japaner in die bunten großen Hallen mit den Leuchtschriftreklamen,
die immer wieder im Straßenbild auftauchen. Gebannt sitzen die
Spielenden in langen Reihen vor den Automaten, durch welche Metallkugeln
rattern. Ein solches Getöse erfüllt die hell erleuchteten
Fluren, dass der nächste kaum zu verstehen ist. Auf der Radtour stehen
nach einer Biegung plötzlich riesige Plastikmonster an der Straße.
In Japan sind manche Vororte voller High-Tech-Spielhallen, in die nicht
nur die Kids versinken. Uralt neben hochmodern Japaner lieben Feste, immer wieder Feste. Denn im Shintoismus ist das Diesseits ein potentielles Paradies. Diese Sicht bewirkt auch einen schuldfreien Umgang mit dem Geschlechtlichen. Japan ist eine höchst sinnenfrohe Kultur, mit seinen alkoholselig begangenen Kirschblütenfesten, seinen volksfestartigen Straßen-Umzügen, seinem abendlichen Entspannungsbad im "Ofuru" (der heißen Eintauchwanne in den öffentlichen Bädern und nahezu jedem Haus), oder seinen Love-Hotels, wo so mancher Familienvater in einem öffentlichen Freiraum außereheliche Liebschaften pflegt. Hier koexistiert uralt neben hochmodern, zum Beispiel futuristische Autocomputer, die mit charmanter Frauenstimme auch noch zu den fernsten Zielen sicher geleiten, neben teuren Glücksbringern in den rund 80 000 Shinto-Schreinen des Landes (zum Zwecke des Bestehens jenes schwierigen Eintrittsexamens in die Universität, einer leichten Schwangerschaft, der Gesundheit oder einer glücklichen Beziehung). Mythen durchwehen den Geist Japans. Das Götterpaar Izanagi und Izanami sind die Stammeltern des Landes, sagt der Shintoismus. Von ihnen stamme die Sonnengöttin Amaterasu ab, die Hauptgottheit des Shinto (ein Verweis auf ein frühes Matriarchat). Auch der rote Sonnenball der japanischen Flagge erinnert an Amaterasu. Der Name ihres Reiches lautet "Nippon" für "Ursprung der Sonne", was die Portugiesen über "Jippon" in "Japan" vereinfacht haben. Der erste japanische Gottkaiser "Tenno" gilt als ihr Enkel. Deshalb ist der Kaiser der höchste Shinto-Priester. Sein Palast beherbergt den "Ise-Schrein", den höchsten Altar des Shinto. Das Götterpaar Izanagi und Izanami habe die Welt, Natur, Menschen und Götter aus dem chaotischen Ur-Ozean vor der Existenz erschaffen. Doch dabei "erwählten" sie Japan, die Japaner und die japanischen Schutzgottheiten "Kamis". Hier liegt die Hauptwurzel eines gewissen japanischen Nationalismus, der im Militarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts virulent wurde. Andererseits gilt das "auserwählte"
Japan des Shintoismus nicht als schuldbefrachteter Verdammungsort, sondern
als das Paradies selbst. Der archaische Shinto kennt gar kein "Jenseits".
Der Grund-Dualismus von "Satan" gegen "Schöpfergott"
mit einer "Ewigen Seele" im Spannungsfeld dazwischen, von
"Sünde", "Schuld" oder "schlecht"
gegen "gut", sind ihm femd (wie auch dem Buddhismus). Übel
ist hier nur verzerrtes Gutes, das aus der natürlichen Ordnung
der Welt als dem Paradies kurz herausgekippt ist. So kann es durch Reinigungsriten
und tätige Reue (im Shinto höchst bedeutsam) leicht korrigiert
werden. In Japan haben Entschuldigungen großen Effekt. Offen für das Fremde, mit Ausnahmen In einem Ort führt die Radtour an einer christlichen Kirche vorbei, die auch im Straßenbild Kyotos bereits ein paar Mal aufgefallen ist. Aber in Japan gibt es nur sehr wenige Christen. "Die Japaner lieben die christlichen Hochzeits-Zeremonien, was der Zweck dieser Nachbauten ist", löst Michael die Frage. Häufig halten Studenten hier die feierlichen Ansprachen, ein begehrter Nebenverdienst. Für die eigentliche Vermählung des Paares sind jedoch die Priester des Shintoismus zuständig. Die Bestattung sowie die in Japan zentrale Ahnenverehrung wiederum obliegen den buddhistischen Geistlichen. Dieses Land ist besonders offen für das Fremde. Die abgelegene Inselnation Japan hat ihre zentralen Kulturgüter schon immer aus dem Ausland hereingeholt; nämlich im dritten Jahrhundert vor Christus den Nassreis aus China, im sechsten Jahrhundert nach Christus den Buddhismus aus China und Korea, oder im neunzehnten Jahrhundert die Wissenschaft und Technik aus dem Abendland. Die Offenheit gilt mit Ausnahmen: Im 16. Jahrhundert
haben Portugiesen und Spanier durch Bündnisse mit Lokalfürsten in Japan
massiv Einfluss zu nehmen versucht. Nach der Einigung des Landes unter
den Tokugawas 1603 kam es bald zur Vertreibung der Abendländer und blutigen
Christenverfolgungen. Trotz massiver Missionsbemühungen vor allem der
Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute gibt es in Japan weniger
als ein Prozent Christen. Auch wirkt generell auf die Asiaten das Kardinalsymbol
des Christentums, der blutende Jesus Christus am Kreuz mit schmerzverzerrtem
Gesicht, im Vergleich zum gütigen Lächeln der gleichmütigen Buddha-Antlitze
sonderbar unverständlich und nicht attraktiv. Unterhaltung Was birgt dieses Automaten-Häuschen dort auf dem Parkplatz mitten im Wald? Sexvideos. Einem der Videos liegt ein Mädchenslip bei. In den japanischen Videotheken kann man sich solche Unterhaltung noch nicht ausleihen. Denn das Gesicht muss gewahrt bleiben, wie der alte Konfuzius dem Lande erbarmungslos vorschreibt. Dadurch erklärt sich ebenso eine gewisse Bereitschaft zum "Harakiri" unter hohen Amtsträgern oder den früheren Kriegern "Samurai", nachdem es zu unehrenhaftem Verhalten gekommen war. Kyoko Uenobu, eine Freundin aus Kyoto, arbeitet am Wochenende im Restaurant ihrer Eltern hier am Biwa-See. Ihr Vorschlag für den Abend lautet: Zuerst Essen, dann Karaoke. Das Mahl wird gemeinsam entschieden. Denn "Gruppen bestellen in Japan keine Einzelgerichte", wie es Michael erklärt. Beim Essen behält man das Glas und den Teller des Nachbarn im Auge, stets achtsam auf den anderen Menschen bedacht, stets bereit zum höflichen Angebot, einen Nachschlag zu reichen. Es wäre unhöflich, sich selbst zu bedienen. In der Karaoke-Bar stehen in den gemütlichen Zimmern
Musikanlagen mit einem reichen Angebot von Songs. Dann geht es mit Drinks
auf den breiten Sofas zur Sache: Jeder wählt einen Favoriten ...
Unter raumfüllender Akustik erscheint auf dem Bildschirm das entsprechende
Musikvideo. Die Färbung des Lied-Textes im Untertitel wandert,
je nach der dazugehörigen Musikstelle. Jeder hat nun seinen großen
Auftritt vor dem Mikrofon und wird zum begeistert beklatschten Abendstar.
Es macht soviel Spaß, dass mehrmals nachzuzahlen ist. Stunden
vergehen, denn es werden immer neue gute Songs in der Mappe entdeckt.
Die Auftritte sind fast schon fernsehreif (die Technik macht's)! Am
nächsten Tag geht es noch ganz beschwingt auf den Rädern weiter. Kinder, Kinder Der Weg schlängelt sich durch idyllische Häuschen eng am See entlang. Es wird wieder Zeit, eine Herberge aufzusuchen. Das Haus dort könnte eine sein, es herrscht Betrieb! Weit gefehlt, es ist ein Ferienhort für Kinder. Die Leiter des Hortes zögern nicht und bieten zwei Betten im Nachbargebäude an. Der Abend wird bei gutem Essen, Reisschnaps "Sake" und wohligen Gesprächen noch lange. Am nächsten Morgen steht für die Kinder Spielen und Baden im See auf dem Programm. Das Ganze geht ausgelassen vor sich, aber genau nach Plan. Ein Kleiner macht abseits sein "eigenes Ding". Er wird nicht zurechtgewiesen. Erst als die Schar von Kindern still in einer Reihe dasitzt, kommentiert die Kindergärtnerin sein Verhalten vor allen: "Er ist noch zu klein, um es schon zu wissen, und wird es noch lernen." Mit solch sanfter Warnung wird Druck gemacht, aber auch anspornend die Fähigkeit zum Verhalten im Einklang mit der Gruppe betont. In Japan gibt es zahlreiche Kinderhorte. Kleine Kinder werden hier grundsätzlich nicht diszipliniert oder bestraft. Sie dürfen fast alles, was dem höchst diszipinierten Eindruck der erwachsenen Japaner zu widersprechen scheint. Michael berichtet von einem Fall, den er selbst miterlebt hat: Beim Mittagessen nahm sich ein Kind in einer Runde von Erwachsenen von den verschiedenen Tellern, wie es ihm gerade beliebte. Niemand hat es strafend angesehen, von seinem Tun abgehalten oder zurechtgewiesen. Auf diese Weise bekommen die Kleinen hier systematisch das Gefühl, dass sie in Ordnung sind, wie sie sind, und vor keinem Menschen Angst zu haben brauchen. So wird jenes Grundvertrauen und die warme, wechselseitige Akzeptanz aufgebaut, welche den Abendländern an der japanischen Gesellschaft auffallen. Sie garantieren relative Stressfreiheit trotz des enormen Leistungsdruckes. Das Menschenbild des japanischen Buddhismus von der
"Buddha-Natur" bedeutet auch, dass hier Kinder als "kleine
Götter" gelten. Die Kindergärtnerinnen verstehen sich
bloß als "Entwicklerinnen", nicht als "Erzieherinnen"
(welche das Kind erst in die richtige Richtung "ziehen" müssten,
wohin es von sich aus nicht tendiere). Der unbewusste Leitsatz der japanischen
Erziehung ist: "Das Kind will das Gute, kennt es bloß noch
nicht". Der unbewusste Leitsatz der traditionellen abendländischen
Erziehung ist: "Das Kind kennt das Gute, will es aber noch nicht".
Die japanische Sprache hat ein eigenes Wort für das im Herzen gerührte
Empfinden beim Anblick eines Kleinkindes und eines Tierbabys. Die Intuition Der Biwa-See bleibt zurück. Nun geht es noch ein kleines Stück durch das Land. Schließlich erscheint nach der letzten Anhöhe plötzlich die unbegrenzte Weite des japanischen Meeres, wie es gleißend in der Sonne funkelt. Nach dem langen, wiederum sehr heißen Tag kommen Sitzbänke unter schattigen Bäumen in Sicht. Es macht dort bereits eine vielköpfige Familie Picknick. Doch es wäre noch genügend Platz für zwei weitere Personen. Die Japaner bemerken die Ankömmlinge sehr höflich. Michael springt unverzüglich ins Meer. Nach geraumer Zeit kommt ein Knirps grimassenschneidend her. Er sprang zunächst wild herum, ohne jemals dieser einen der beiden Langnasen näher zu kommen, die offensichtlich für ihn bloß erschöpft dasitzen wollte. Auch die Erwachsenen ließen den Neuen zunächst völlig unbeachtet. Dessen erfreute Grimassenantwort belustigt den Kleinen und die Erwachsenen nun plötzlich aufs Stärkste. Ihre Gesichter erstrahlen in einem großen Lachen. Eine Aussage der deutschen Missionsbenediktinerin Schwester Ludwigis Fabian kommt in den Sinn. Diese Schwester gehört zu den christlichen Ordensleuten, die Zen-Meditation mit dem Christentum verbinden. Vor ihren heute vielbesuchten Kursen hatte sie in Japan sieben Jahre unter dem Zen-Meister Yamada Koun Rosh praktiziert. Sie sagte zum Unterschied zwischen den Abendländern und den Asiaten: "In Asien steht die Intuition im Vordergrund, und im Westen die Ratio". Der Buddhismus lehrt die letztliche Nichtgetrenntheit,
die "Selbst"-lose Vernetztheit aller Dinge im Fluss der abhängig
entstehenden Phänomene. Er bezweckt die Auflösung der dualistischen
Illusion, durch die meditative Ausbildung einer innerlich sehenden,
"Trefflichen Achtsamkeit" (samma Sati). Wegen dieser Ausrichtung
auf die "Natur der Dinge" in der eigenen Erfahrung ist Achtsamkeit
zentral für die Praxislehre des Buddha. Was nachwirkt Nach der Reise wird im Gespräch mit dem Lektor Stephan Schuhmacher wehmütiger Rückblick gehalten. Er nennt Japan seine zweite Heimat, wo ein "viel weniger ausgeprägtes dualistisches Bewusstsein" herrsche. Dies zeige sich bereits beim Gehen durch einen großen japanischen Bahnhof, "wo Zigtausende von Menschen durcheinander wimmeln: Kein Stehenbleiben, kein Stocken, kein Anrempeln. Man fließt umeinander herum, wie in einem kollektiven Tanz". Zurück in Deutschland hätte er zunächst am liebsten immer alle Vorhänge zugezogen, "um nichts von der harschen und aggressiven Atmosphäre im Westen hereinzulassen". Japan bedeutet höfliche Distanz, im Tun, Sprechen und auch Denken. Der Buddhismus verkündet als die "Höchste Wahrheit", dass alles fließt, letztlich keinen Stand bietet, sondern das allbezogene, ungetrennte "Nicht-Selbst" ist. Dieses Zurücktreten des "Selbst" in den asiatischen Kulturen, welche vom Buddhismus geprägt sind, bedeutet auch Nicht-Bewertung. Der innere Kommentator des "Ich" schweigt hier weitgehend, was ein Gefühl des Getragenwerdens ergibt; "wie von einem Salzmeeer", bestätigt es Schuhmacher. Aber in Verbindung mit dem shintoistischen Kult der Obrigkeit ermöglichte das buddhistische "Nicht-Selbst" ebenfalls die japanischen Kamikaze-Flieger im Zweiten Weltkrieg. Japan ist nicht zu idealisieren: Es gibt eine enorme
Umweltzerstörung durch die japanische Industrie im Ausland, eine
kaum aufgearbeitete Vergangenheit (das Land bekennt sich noch heute
nicht öffentlich zu seiner Schuld im Zweiten Weltkrieg), oder den
starken Konformitätsdruck innerhalb der Gesellschaft. Doch es ist
zugleich viel mehr vom "Land der aufgehenden Sonne" zu lernen,
als vor der Reise je zu vermuten gewesen war. Japan, es ist selbst ein
Zen-Paradox "Koan", das den linearen Verstand zu direkter
Intuition führt. |
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