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Alles in Buddha Wie der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn
zeitgemäß behandelt
Hier erscheint der Beitrag gegenüber Psychologie
Heute vom Juli 2001 etwas erweitert. Als gekürzter Nachdruck steht
der Artikel auch in dem Sonderheft Psychologie Heute compact
(Heft 8): Glück, Glaube, Gott: Was gibt dem Leben Sinn? vom Juli
2003.
Als Word-Datei - erweitert, wie hier in der Website Als PDF-Original aus Psychologie Heute vom Juli 2001 (auch mit einem großen Collagefoto)
Vorspann der Redaktion im Inhaltsverzeichnis: Buddhismus ist im Westen zunehmend gefragt als Weltanschauung, aber auch als Lebenshilfetechnik. Der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn setzt seit vielen Jahren gezielt zurechtgeschnittene Techniken buddhistischer Achtsamkeitsmeditation zum Stressabbau ein. Er verbucht damit beachtliche Erfolge bei der Behandlung ansonsten therapieresistenter psychosomatischer Leiden. Inzwischen hat seine Methode auch in Deutschland Nachahmer gefunden.
Vorspann der Redaktion am Beginn des Beitrages: Im Westen boomt der Buddha. Besonders das Konzept der "Achtsamkeit" ist als Entspannungs- und Lebenshilfetechnik en vogue. Der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn hat buddhistische Meditationsformen gezielt auf hiesige Bedürfnisse zurechtgeschnitten und setzt sie zur Rehabilitation in der Klinik ein.
Eigener Haupttext: "Achtsamkeit" ist nicht nur in der alternativen Psychoszene zu einem geflügelten Wort geworden. Sogar katholische Patres und Klostermänner, die (beim Schwund der Kirchen heute ungewohnt genau im Trend) nach dem flexiblen japanischen Zen meditieren, werben mit der Achtsamkeit. Natürlich springt auch der höchst farben- und umsatzfrohe Pfau der esoterischen Spiritualität mit einem gekonnten (neuen Magazin-)Satz auf den weithin hörbaren Zug auf, der neuen esotera. Ungeachtet dieser fast ängstlichen "Reaktionen" steht das Thema Achtsamkeit bereits seit langem im Zentrum der Komplementärmedizin. Das achtwöchige Behandlungsprogramm des amerikanischen Medizinprofessors Jon Kabat-Zinn "Stressreduktion durch Achtsamkeit" (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) wird seit mehr als zwei Jahrzehnten in den USA eingesetzt, heute an rund 300 Kliniken und Gesundheitszentren. Daneben ist es auch hilfreich in problemreichen Stadtvierteln, Gefängnissen (bei Insassen sowie Personal), öffentlichen Schulen und seit kurzem im Managementtraining. 1979 gründete Kabat-Zinn die "Stressreduktionsklinik" im großen Hospital der Universität von Massachusetts in der Arbeiterstadt Worcester. Denn er war zutiefst überzeugt, dass die buddhistische "Achtsamkeitsmeditation" der Gesundung unmittelbar nützen könne vor allem in den zahlreichen Fällen, wo die konventionellen Methoden alleine nicht mehr weiter helfen. Es komme lediglich darauf an, die kostbare Essenz dieser ältesten buddhistischen Meditationsform, des Vipassanâ (altindisch für "befreiende Einsicht", "intuitives Wissen"), im Abendland ohne den häufig abschreckenden Ballast des traditionellen begrifflichen Überbaus zu vermitteln. Auf diese Weise erreicht der promovierte Molekularbiologie auch solche Durchschnittsbürger, die weder mit Esoterik noch mit östlicher Philosophie sonderlich viel am Hut haben. Und er erreicht die Mitarbeiter im Gesundheitssektor. Kabat-Zinn scheint sogar die skeptische westliche Medizin für seinen meditativen Heilansatz zu erwärmen. Alleine die Stressreduktions-Klinik in Worcester behandelte bis 1998 bereits über 10 000 überwiesene Patienten. Einmal wöchentlich treffen sich die Programmteilnehmer zum "Reiten der Wellen des bewussten Atmens", zu Erfahrungsaustausch, Yoga, sowie einer geführten stillen Meditation. In der siebenten Woche folgt als Krönung ein stiller "Tag der Achtsamkeit". Die Hausaufgabe während der acht Wochen lautet, sechsmal wöchentlich 45 Minuten in aller Form zu meditieren - ein Ausgangspunkt, um die Achtsamkeit allmählich zu einer "wahllosen Bewusstheit" zu erweitern. Diese Erweiterung verläuft über bestimmte Alltagsaufgaben, etwa das Bewusstwerden ausgewählter Routinearbeiten. Eine andere Übung ist hier, sich durch das Klingeln des Telefons zur Praxis der Achtsamkeit wachrufen zu lassen, bevor man den Hörer abnimmt. Eine gewisse Inspiration für Jon Kabat-Zinn ist dabei der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh, der zahlreiche solche Alltagsaufgaben lehrt. Die beiden stillen Meditationen des Programms sind ein so genannter Body Scan im Liegen, sowie eine Sitzmeditation. Beide werden (neben dem uralten Hatha-Yoga) nacheinander bei den Gruppentreffen eingeführt. Danach soll man zuhause täglich 45 Minuten praktizieren, mit Hilfe einer sanft anleitenden Kassette. Außerdem gibt es ein Arbeitsbuch mit weiteren Meditationen und Hinweisen zu Ernährung und Fitness. Die andere "Hausaufgabe" ist das Tagebuch. Eine Woche soll man sich täglich einer angenehmen Begebenheit möglichst präzise bewusst werden, eine andere Woche einer unangenehmen Begebenheit, und eine weitere Woche einer stressigen zwischenmenschlichen Situation. Nach dieser Erfahrung ist alles auch im Detail schriftlich festzuhalten, indem man bestimmte Fragen im Tagebuch beantwortet. Sie behandeln im Grunde zwei Gebiete: Erstens alle Empfindungen im Körper, in die das äußerlich Erlebte letztlich mündete; zweitens die affektiven und gedanklichen Reaktionen (als die inneren Vorgänge), sowie die eventuell folgenden Handlungen, die aus diesen Empfindungen spontan hervorgingen.
Sockel des Programms, der Body Scan Der bereits erwähnte Body-Scan beruht auf einem der Vipassanâ-Hauptsansätze, dem von U Ba Khin (1899-1971) gelehrten "Körperhineinkommen" (Body Sweeping) aus Burma, das heute von dem Inder Sacya Narayan Goenka weltweit verbreitet wird. U Ba Khin war zwei Jahrzehnte der höchste Regierungsbeamte Burmas nach Abzug der Briten. Er war ein Familienmann mit sechs Kindern, der nie im Kloster lebte. Die von U Ba Khin und Goenka vertretene Achtsamkeitspraxis oder Einsichtsmeditation ist besonders erfolgreich (Vipassanâ bedeutet genauer "Einsichtsmeditation", weil es um eine Achtsamkeit zum Zwecke "befreiender Einsicht" geht). 1999 besuchten in rund 80 Ländern rund 100 000 Menschen die zehntägigen Meditationskurse vier Jahre zuvor waren es etwa 60 000. (Anm.: Im Jahre 2003 finden diese Kurse in rund 100 Ländern statt.) Wie Kabat-Zinn betont auch Goenka immer wieder, dass er keinen "Buddhismus" lehre, sondern bloß dessen Kern die "Kunst des Lebens", wie er den Sanskrit-Name Dharma (das, was trägt, hält oder heilt) modern übersetzt. Kabat-Zinn hebt ebenfalls hervor: "Ich glaube, dass wir auf der tiefsten Ebene den Dharma lehren." Der "Erwachte" (was "Buddha" heißt) hat Dharma das "zeitlose, universelle Gesetz" genannt. Wer dieses Gesetz auf seinem individuellen Wege zunehmend erkenne oder beachte, verwirkliche schließlich die volle Befreiung. Dieser "innere Weg" sei das große Dreigespann ethische Motivation, geistige Ruhe und intuitives Wissen, die sich wechselseitig "hochschaukeln". Das Ganze entspringe aus der Quelle einer "trefflichen Achtsamkeit" (sammâ Sati), die langsam die "wahre Natur" aller Dinge offenbare. Der (zur wahren Natur) Erwachte hat diese "Achtsamkeit zum Sehen" (Sati Paññâ) in einer berühmten Meditationsrede, die allen Vipassanâ-Ansätzen primär zugrunde liegt, sogar als den "direkten Weg zur Überwindung von Kummer und Wehklagen, zur Auflösung von Schmerz und Traurigkeit, zur Läuterung des Herzens, zur Realisierung des wahren Pfades, zur Befreiung des Nirvana" hochgehalten. Auch der schweizer Vipassanâ-Lehrer Fred von Allmen etwa betrachtet den jetzigen Modetrend zur "Achtsamkeit" eher kritisch: "Es geht nicht um Achtsamkeit, sondern um Einsicht." Der Body Scan Kabat-Zinns verbindet das Körperhineinkommen Goenkas mit einer Ganzkörperatmung aus einem anderen Vipassanâ-Ansatz. In dieser verbundenen Form fließt nun die möglichst ungeteilte, gedankenfreie Aufmerksamkeit von einer Stelle des Körpers zur nächsten (etwa: die Zehen, die Fußsohlen, die Unterschenkel usw.), wobei die Einatmung bewusst von der Nase durch den Körper bis in diese Stelle hineingeführt wird. Mit der Ausatmung wird dann jede Spannung abgegeben, die sich eventuell dort befindet. Gleichgültig, was an der Stelle auch geschehen mag eine angenehme oder unangenehme, eine starke oder schwache, oder gar keine Empfindung (eine "Blindstelle", wie Goenka es nennt) die Aufgabe besteht ausschließlich darin, "diese Empfindungen zu spüren, sich auf sie zu konzentrieren, mit ihnen zu atmen", so Kabat-Zinn. Es geht hier um ein sanft umschmiegendes Gewahrwerden aller Empfindungen, wie und wo sie auftreten. Dies, erklärt Kabat-Zinn weiter, erwecke in uns jene schmerz- oder stressfreie Stille ohne alle Geistesaktivität, welche den Körper entzünde. Die ganze Praxis falle relativ leicht, weil man mit der Aufgabe des systematischen Körperdurchwanderns vollkommen beschäftigt sei, wie Goenka und Kabat-Zinn erklären. Beide Lehrer erweitern die Achtsamkeit langsam auch in das organische Innere des Körpers, um die sehr subtilen Empfindungen dort zu spüren. Goenkas Resümee des Körperhineinkommens lautet: Betrachte und reagiere nicht. Das Mittel zum befreienden Sehen sind hier also Bewusstheit und Gleichmut. Erst das eingehende Sehen der unentwegt fließenden Natur der Empfindungen gestatte es, nicht mehr "blind" auf sie zu reagieren eben mit den Affekten, die wesensgemäß "nach außen blicken". Kabat-Zinns Resümee des Body-Scans lautet ähnlich: Sehen und loslassen. Der Body Scan wird zu Anfang des Programms betont. Denn er bringe Verankerung im bewussten Sicheinlassen auf die fortwährend wechselnden Empfindungen, mit denen hier "geatmet" wird.
Die Bewusstheit der Empfindungen In jener berühmten Meditationsrede des Buddha von den "Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit" (Satipatthâna-Sutta) ist das sanft umschmiegende Gewahrwerden aller Empfindungen das große Bindeglied aller darin erläuterten Meditationsformen. Diese Rede wird in Südostasien, wo sie unter den gewöhnlichen Laien besonders verehrt wird, etwa den Sterbenden vorgelesen. Zu den darin genannten Empfindungen gehören die folgenden: * Alle Qualitäten des Ein- und Ausatmens, sowie die Atemempfindungen, die über den Sauerstoff überall im Körper präsent sind. * Die mit den Sinneskontakten ausgelösten, ganz subjektiven Gefühlsreaktionen (im Körper), die gewöhnlich unmerklich in unsere Affekte übergehen. * Damit verbundene "Spannungsfelder" im Körpergewebe (als eine Art von "Niederschlägen" der verfehlten Reaktionen im Geiste). * Die "Vier Elemente" (Erde, Wasser, Feuer und Luft) als reine Spürqualitäten (das Widerständige, sichtbar Ausgedehnte und Gewichtige "Erde"; das Flüssige, flexibel Zusammenhaltende und Konturengebende "Wasser"; das Temperierte, Energiegebende und Aufzehrende "Feuer"; und das Bewegte "Luft"). Sie "sind" gleichsam alles Materielle auf der Ebene des direkten Körperempfindens. (Zu diesem Kernthema der natürlichen Elemente als Spürqualitäten vgl. den Beitrag Der Buddha und die Natur, in der Rubrik "Die klassischen Lehren im Dharma"). * Die allgegenwärtigen Empfindungen, wodurch jede Position, jede Bewegung und jeder Körperbereich, der mit der Umgebung (Boden, Unterlage, Kleidung und Gegenstände), anderen Körperstellen, Luft, Flüssigkeiten oder Temperatur in Kontakt ist, im Grunde immer ganz ungetrennt (potenziell darin aufgehend) und somit "befreiend" spürbar werden kann. Zu den Empfindungen zählen in der Rede ebenfalls die Geschmäcker. Auch die ständig wechselnden "Geistesqualitäten" (wie zerstreut oder gesammelt; Geist mit Ärger oder Geist ohne Ärger; usw.) sind hier als innere Zustände unmittelbar zu "empfinden". Denn der Buddha sagt: "Alles, was im Geiste geschieht, wird von Empfindungen im Körper begleitet." Im Satipatthâna-Sutta sind aber die besonders flüchtigen Phänomene Gedanken, Geräusche und Anblicke (als der Flusswandel der Formen und Farben im konkret erfahrenen Sichtfeld) nicht als Betrachtungsinhalte genannt. Am Ende wird als das ganze Geheimnis der Befreiung betont, diese direkt hineinspürenden "Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit" kontinuierlich aufrechtzuerhalten, ohne sich ablenken zu lassen. Die heutigen Vipassanâ-Lehrer bauen häufig auf Aspekten solcher inspirierend "offenen Methoden" des Buddha auf, indem sie technische, strukturierte Methoden entwickelt haben. Goenka etwa betrachtet letztlich alles im Körper als sehr subtile "Empfindungspunkte" (Kalâpas), die ständig hervorblitzen oder "verbrennen". Eine hochkonzentrierte Systematik bezweckt hier das Stadium eines alloffenen Flusses in befreiendem Sehen oder Gleichmut. Der burmesische Meister Sunlun Sayadaw (ein kaum lesekundiger Bauer, der in seiner Heimat nur durch seine Praxis und Einsicht berühmt wurde), sagt das Schlüsselwort: "Mache Dir jede Körperempfindung bloß so bewusst, wie sie ist, ohne Namen; bis nur noch das bare Wissen im Empfinden selber zurückbleibt." Laut Ajahn Dhammadaro aus Thailand ist der Pfad zur tiefsten Befreiung dadurch gekennzeichnet, dass langsam alle Sinneserfahrungen als "klare Empfindungen" hervortreten, die "an der Herzbasis" entstehen und vergehen. Ajahn Lee Dhammadaro (ein anderer "Dhammadaro") lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Atemempfindungen im ganzen Körper. Er benennt als das einfache Geheimnis der vollen inneren Befreiung: "Das Atmen im Gespür halten".
Säule des Programms, die Sitzmeditation Durch den Body Scan sozusagen vorbereitet, wird in Kabat-Zinns Achtsamkeitsprogramm während der vierten Woche die "Sitzmeditation" eingeführt. Sie umfasst eine ganz bestimmte Abfolge von Beobachtungen von Objekten durch den Geist, die so aus einem anderen Vipassanâ-Hauptansatz stammt, dem burmesischen "Benennen". Dabei wird traditionellerweise versucht, mittels spontan im Geiste aufblitzenden Begriffen oder "Etiketten" (labels) den universellen Fluss der Dinge immer durchgängiger zu erfassen, um das gewöhnliche, generell unbewusste Eintauchen in ihn (aus Identifikation und Ergreifen) abzubauen. Nur auf dieses begriffliche Etikettieren aller beobachteten Objekte hat Kabat-Zinn bei seiner Technik der Sitzmeditation verzichtet. Das begriffliche Festhalten aller Details erfolgt bei ihm mit den "Tagebüchern" der Teilnehmer, welche den "Fragebögen" ähneln, die beim Benennen zu einem Interview auszufüllen sind. Am Anfang der ganzen Objektsequenz steht nun das Beobachten der Bewegung der Bauchdecke während der Atmung; danach folgt (verankert in dieser Bewegung) das Beobachten aller spontan auffallenden, also stärkeren Empfindungen im Körper; dann der Geräusche; dann der Gedanken; und schließlich kommt die "wahllose Beobachtung aller Objekte der Achtsamkeit". Am Ende geht es um ein Gefühl für die Natur des Geistes selbst, die hier als Raum und Stille gilt. Die Freiburger Diplompädagogin und Stresstherapeutin Ulrike Kesper-Grossman, die lange Zeit an Kabat-Zinns Institut in den USA gelernt hat, hält die Sitzmeditation für noch wichtiger als den Body-Scan. Denn sie habe eine besondere Qualität, die dem Body Scan fehle, nämlich ein offenes Gewahrsein, das nichts mehr ausschließe. Auch für Kabat-Zinn selbst steht diese Sitzmeditation im Mittelpunkt der Meditationspraxis seines Behandlungsprogramms.
Achtsam ist wirksam Das objektive Beobachten als jenes "Benennen" (bei welchem der "Geist" oder das "Selbst" gleichsam außen vor bleibt) ist in den USA zur einflussreichsten buddhistischen Praxis geworden. Es wird dort von besonders prägenden Meditationslehrern und vielverkauften Autoren wie Joseph Goldstein, Sharon Salzberg oder Jack Kornfield gelehrt. Die Zentren dieser Form des Vipassanâ bieten intensive Meditationskurse (etwa das hochpopuläre, alljährliche "Dreimonats-Retreat"). Sie sind seit langem der Anlaufpunkt für weltbekannte Autoren wie Daniel Goleman (mit dem internationalen Bestseller Emotionale Intelligenz, die er mit der buddhistischen Achtsamkeit gleichsetzt) oder Mark Epstein (mit dem Bestseller Gedanken ohne den Denker, der eine Verbindung des Buddhismus zur Psychoanalyse herstellt). Gil Fronsdal von der Stanford University betrachtet Kabat-Zinns und Golemans Arbeit sogar als eine "verdeckte Form der Einführung der Vipassanâ-Praxis in die amerikanische Gesellschaft". Kabat-Zinn, Goleman und Epstein publizieren bereits seit langem im Fachjournal Inquiring Mind, dem hauptsächlichen Forum der inzwischen zahlreichen amerikanischen Vipassanâ-Praktizierenden, das sich etwa Themen wie "Psychotherapie und Meditation" widmet. Goleman hat mit Emotionale Intelligenz bewusst die Überschätzung des "Rationalen" bzw. die Geringachtung des "Intuitiven oder Meditativen" im Abendland aufgegriffen. Die Verkaufszahlen zeigen, dass dieses Thema die Menschen sehr bewegt bzw. spürbar in der Luft liegt. Kabat-Zinn weiß gut um die Schätze der uralten buddhistischen Meditation, die nunmehr auch im Westen auf sich öffnende Augen treffen. Kabat-Zinns Programm hat längst das Interesse der US-Medien auf sich gezogen. Laut einer Reihe von wissenschaftlichen Studien ist es gegen psychosomatische oder stressbedingte Krankheiten wie Hauterkrankungen, Bluthochdruck oder Herzprobleme, gegen chronischen Schmerz, Depressionen oder Altersleiden, sowie gegen Ängste bei unheilbaren Krankheiten besonders wirksam und zwar in vielen Fällen, in denen die Ärzte weitgehend passen müssen. Chronischer Schmerz ist ein in den westlichen Gesellschaften zunehmend verbreitetes Leiden. Das "Medical Center" in Worcester hatte Anfang der 90er Jahre doppelt so viele Patienten wie zehn Jahre vorher. Innerhalb des Hospitals, so ein Arzt, würden die besonders schweren Fälle an Kabat-Zinns "Zentrum für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitsfürsorge und Gesellschaft" überwiesen. Dessen meditativer Heilansatz appelliert an die Selbstverantwortung. Möglicherweise ruft dies bei vielen Selbstheilungskräfte wach. Dies wird auch dadurch gefördert, dass in Kabat-Zinns Zentrum der Dualismus zwischen Behandeltem und Behandelndem eher in den Hintergrund tritt. Damit entsteht eine innere Verbundenheit, und man sich fühlt sich zusammengehörig, als "gemeinsam in einem Boot" sitzend. Laut wissenschaftlichen Studien aus den USA, die mehrfach in Fachorganen publiziert wurden, berichten nach dem Programm drei Viertel aller Teilnehmer von einer merklichen bis starken Besserung ihrer Symptome. In einer zweijährigen Untersuchung wurden 1200 an Kabat-Zinns Zentrum überwiesene Patienten begleitet: 86 Prozent der Teilnehmer blieben die ganzen acht Wochen dabei. Währenddessen gingen ihre "medizinischen Symptome" um 25 Prozent und ihre "psychologischen Symptome" um 32 Prozent zurück. Eine Reihe von Folgestudien hat ergeben: Bei der Mehrheit der Teilnehmer waren auch drei Jahre nach ihren Gruppen diese positiven Veränderungen stabil geblieben. Mindestens die Hälfte praktizierte dann noch regelmäßig die Meditation, wenigstens drei Mal die Woche. Auf einer tieferen Ebene veränderte sich durch die Achtsamkeitspraxis ebenfalls Manches: Es verschoben sich jene psychologischen Persönlichkeitseigenschaften, die bei Erwachsenen als sehr schwer veränderbar gelten. Zu diesen Eigenschaften zählt das "Kohärenzgefühl" eines Menschen, also sein "Sinn für einen Zusammenhang"; diese Eigenschaft bestimmt, wie weit man sein Schicksal zu akzeptieren bereit ist. Ein anderes Persönlichkeitsmerkmal ist die "Stressresistenz"; sie besagt, wie lebendig man sich im täglichen Leben fühlt, wie gut man "das Ruder" hält, und wie stark man fähig ist, Wandlungen als eine Herausforderung zu begreifen. Nach der achtwöchigen Achtsamkeitspraxis stieg bei den Patienten das Kohärenzgefühl um sieben und die Stressresistenz um sechs Prozentpunkte. Aus psychologischer Sicht sind diese inneren Strukturveränderungen enorm. Manche Forscher wie David McClelland von der Harvard-Universität vertreten die Auffassung, dass Kohärenz und Stressresistenz das Immunsystem stärken und dadurch Krankheiten bis hin zu Krebs vorbeugen. Die Teilnehmer an Kabat-Zinns Programm erfahren häufig Schmerzen in irgend einem Körperteil, manche haben operative Eingriffe mit Spätfolgen hinter sich, andere wiederum leiden an körperlich manifesten Ängsten. Kurz gesagt: Sie erleben im allgemeinen viel Kampf und Hader mit ihrem eigenen Körper. Wenn die Teilnehmer den Body Scan machen, lernen sie einfach, die "nackte Erfahrung" in jedem Körperteil, einschließlich des problematischen Gebietes, zu akzeptieren. Vielen, so Kabat-Zinn, sei diese Erfahrung, sich in ihrem Körper zu Hause zu fühlen, von Kind an unbekannt. Erst allmählich würden sie im Laufe des Programms lernen, beim Body-Scan nicht einzuschlafen, sondern ihn mit ungeteilter Bewusstheit zu machen. Dann würden häufig tiefe Erfahrungen der Entspannung berichtet, wie sie noch nicht erlebt worden seien. Diese ungewohnte Tiefenentspannung dürfte der Hauptgrund für jenes Erwachen der Selbstheilungskräfte sein. Denn in der vollen Meditation erfährt man sich selbst befreiend als nicht mehr "ausgeliefert" oder "hilflos" sich selbst gegenüber.
Die Situation in Deutschland Einige Deutsche aus den helfenden Berufen haben die kürzere "Fortbildung" (eine Woche) oder das längere "Internship" (acht Wochen) an dem von Jon Kabat Zinn gegründeten Achtsamkeitszentrum in Massachusetts durchlaufen. Sie leiten seit Jahren in Deutschland Gruppen der "Stressbewältigung durch Achtsamkeit" (siehe den Informationsteil am Ende). Im Jahre 2000 wurde das Programm auch erstmals von einer deutschen evangelischen Klinik (Essen-Mitte) übernommen. Deren neue "Abteilung für Naturheilkunde und Integrative Medizin" gilt als eine Modelleinrichtung Nordrhein-Westfalens zur Integration fundierter Naturheilverfahren in die klinische Versorgung und Forschung als Reaktion auf das zunehmende Bevölkerungsinteresse an alternativmedizinischen Behandlungsverfahren. Im Sommer 2001 wurde die Abteilung von 18 auf 54 Betten vergrößert. Kabat-Zinns Stressreduktion wird hier im Rahmen der teilstationären Nachbehandlung in der Tagesklinik praktiziert. Eine vorbereitende anderthalbjährige "Weiterbildung" für die Führung der Gruppen wird hierzulande ab Februar 2002 (bei Köln) angeboten, so die "koordinierende Direktorin", Zen-Lehrerin Linda Lehrhaupt. Voraussetzung zur Teilnahme sind eine abgeschlossene Ausbildung und mindestens drei Jahre Meditationspraxis. Die Psychologin Susanne Kersig und die Pädagogin Barbara Dietz-Waschkowski lehren das Programm ab Herbst 2001 auch im Rahmen der innerbetrieblichen Weiterbildung in einem großen Freiburger Betrieb. Sie wollen hierzulande, wie dies in den USA bereits der Fall ist, besonders die Führungskräfte in den Unternehmen ansprechen. Kabat-Zinn und Saki Santorelli, der neue Direktor der Stressreduktionsklinik in den USA, lehren gelegentlich auch in Deutschland. Kabat-Zinn "autorisiert" niemanden zur Führung des Programms. Er bietet zwar die Fortbildungen oder das Internship an, betont jedoch (wie im ältesten Buddhismus "Theravada" aus Südostasien und Sri Lanka, welcher die buddhistische Muttertradition des Vipassanâ ist) die Selbstverantwortung. Die Komplementärmedizin verliert durch die Wissenschaft auch in Deutschland allmählich ihren "Alternativtouch". Die Diplomarbeit des Psychologen Marcus Majumdar von der Universität Freiburg (Achtsamkeitsmeditation als therapeutischer und präventiver Beitrag zur Gesundheit), die von der "Continentale Krankenversicherung" preisgekrönt wurde, ist die erste systematisch durchgeführte deutsche Evaluationsstudie zu den Heilwirkungen von Kabat-Zinns Behandlungsprogramm. Sie bestätigt die Kernergebnisse der Arbeiten in den USA (zu weiteren Forschungsarbeiten in Deutschland siehe den Infoteil am Ende). Majumdars Betreuer Harald Walach, der am Uniklinikum Freiburg eine "Arbeitsgruppe zur Evaluation von Komplementärmedizin" leitet, möchte die Wirkungen der Achtsamkeitsmeditation besonders bei Leiden wie chronischem Schmerz breiter erforschen, bei denen die therapeutischen Möglichkeiten bislang beschränkt sind. zurück zum Top
Ein praktischer Eindruck vom Vipassanâ:
Ein Auszug aus dem Meditationsmanual des Vipassanâ-Meisters Sunlun Sayadaw (1878-1952), dessem Ansatz in Burma zahlreiche Zentren folgen (zum vollständigen Text siehe Berührung und Bewusstheit: Halte diese beiden kontinuierlich im Sinne, in der Rubrik "Praxis-und Meditationstexte"): Wähle einen geeigneten Platz, setze dich aufrecht
hin Ohne Geräuschen nachzugehen, Unter allen Öffnungen des Körpers Je tiefer oder kräftiger das Ein- und Ausatmen
wird, In dieser Weise praktiziere kontinuierlich.
Sunlun Sayadaw resümiert seine ganze Methode so: Mit diesen drei Zeilen ist die ganze Sunlun-Methode beschrieben: Berührung und Bewusstheit: Halte diese beiden
kontinuierlich im Gespür. zurück zum Top
Der Informationsteil Literatur: * Jon Kabat-Zinn: Gesund durch Meditation, O. W. Barth-Verlag (das Programm ausführlich). * Jon Kabat-Zinn: Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit, Arbor Verlag (Resümee des Programms; mit CD-Meditation von Kesper-Grossman). * Saki Santorelli: Zerbrochen und doch ganz: Die heilende Kraft der Achtsamkeit, Arbor Verlag. Vipassanâ: Hans Gruber: Kursbuch Vipassanâ: Wege und Lehrer der Einsichtsmeditation, Fischer Taschenbuch, zweite Auflage, 2001 (die hauptsächlichen Ansätze, Vertreter und kanonischen Quellen; mit erklärenden Hintergrundtexten zum frühen Buddhismus Theravâda; im Anhang: Adressen, Literatur; vgl. hier auch unter dem Website-Link "Hans Gruber und Aktivitäten"). Fortbildungen von Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli in Deutschland und Europa: Alle Informationen dazu sind erhältlich vom: Arbor Verlag, Am Saisen 4, 79348 Freiamt. Tel: 07641-933780; Fax: -933781; Email: info@arbor-verlag.de; Website: www.arbor-verlag.de Die deutsche Weiterbildung ab Februar 2002 koordiniert Dr. Linda Lehrhaupt: Hauptstraße 6, 50181 Bedburg. Tel: 02272-930214; Fax: -930219; Email: LindaMyoki@hotmail.com; Website: www.lehrhaupt.com Stressbewältigungs-Kurse: * Psychologin Susanne Kersig. Tel: 0761-22221; Email: susanne@kersig.de; Website: www.skersig.de. * Pädagogin und Yoga-Lehrerin Ulrike Kesper-Grossman ("Institut für Yoga, Meditation und Gesundheit"). Tel: 0761-707-1788; Fax: -707-1782; Email: breathspace@hotmail.com. * Pädagogin und Yoga-Lehrerin Barbara Dietz-Waschkowski. Tel: 0761-54226; Fax: -54105; Email: barbara-dietz-w@t-online.de. * Pädagogin und Meditationslehrerin Dr. Linda Lehrhaupt (siehe oben). * Sozialpädagoge Neils Altner. Tel: 0201-4553845 (Essen); Email: n.altner@12move.de. * Pädagogin Ulla Franken. Tel: 0201-773346; Email: Ulla_Franken@hotmail.com Umfassende Informationen zur Stressreduktion von der amerikanischen Hauptstelle: Carol Lewis (office manager), Center for Mindfulness, University of Massachusetts Memorial Medical Center, 55 Lake Avenue North, Worcester, Massachusetts 01655, USA. Allgemeine Fragen und Infos, Tel: 001-508-856-5849; Fax: -508-856-1977; Email: mindfulness@umassmed.edu; Website: www.UMassmed.edu/cfm Deutsche Forschungsarbeiten zur Stressbewältigung: * Sozialpädagoge Neils Altner: Achtsamkeit als pädagogisches Prinzip. Tel: 0201-4553845 (Essen); Email: n.altner@12move.de. * Pädagogin Ulla Franken: Emotionale Kompetenz und Gesundheit. Tel: 0201-773346; Email: Ulla_Franken@hotmail.com. Folgende Psychologen(in): * Dr. Paul Grossman und Ulrike Tiefenthaler bei einer chronischen Schmerzkrankheit (Adresse: Ulrike Kesper-Grossman, oben). * Dr. Dr. Harald Walach vom Uniklinikum Freiburg (siehe im Beitrag "Deutschland wird achtsam"). Tel: 0761-270-5497 oder -7223; Fax: -7224; Email: walach@ukl.uni-freiburg.de. * Marcus Majumdar (über den letzteren) forscht dazu nicht mehr. Doch seine Arbeit ist im Handel: Meditation und Gesundheit, KVC Verlag Essen.
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