Berührung und Bewusstheit:

Die Praxis des burmesischen Meisters Sunlun Sayadaw,
ein Meditationsgedicht


übersetzt und eingeleitet
von Hans Gruber



Dieses Praxisgedicht ist eine direkte Meditationsanleitung, von einem im Abendland praktisch noch unbekannten Vipassanâ-Meister Asiens. Doch er gilt in seiner Heimat Burma (Myanmar) als einer der größten Meister. Die vorliegende Fassung beruht auf einem knappen und in ziemlich schlechtem Englisch verfassten Meditationsmanual, das in den Sunlun-Zentren vergeben wird. Deshalb ist es hier noch aus anderen englischen Quellen zu Sunlun Sayadaw ergänzt worden. 

Der kaum des Lesens kundige Begründer dieses Vipassanâ-Ansatzes belegt mit seiner ganzen Person bzw. Lebensgeschichte, wie sich die befreiende Vipassanâ-Schau auch unabhängig von Textstudien entfalten kann und von rein intuitiver Art ist.

Damit "widerspricht" Sunlun Sayadaw der Vorrangposition der Scholastik "Abhidhamma" in Burma, dies heißt dem dritten Korb des frühbuddhistischen Pali-Kanons nach den Lehrreden und der Ordensdisziplin des Erwachten (vgl. die Einleitung "Der Dharma" von der Hauptseite der Homepage). Burmesische Abhidhammikas gehen sogar davon aus, dass die Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis Vipassanâ ohne Kenntnisse des Abhidhamma nicht zu verwirklichen sei. So widersprechen sie nicht nur dem Buddha mit dessen tatsächlichen Lehrreden "Suttas", sondern ebenfalls anderen Vipassanâ-Ansätzen besonders in Thailand oder, wie hier, auch in Burma.

Obwohl Sunlun Sayadaw (1878-1952) einer der meistverehrten buddhistischen Meditationsmeister seiner Heimat ist, war er ein einfacher Bauer. Er ist alleine durch seine Praxis und intuitive, befreiende Einsicht im ganzen Land berühmt geworden. Schließlich besuchten ihn viele Mönche und Gelehrte zum Zwecke von Unterweisungen oder auf die Lehre bezogenen Gesprächen. Im Falle von abweichenden Auffassungen ergab die nähere Konsultation der Quellen im Pali-Kanon im allgemeinen, dass Sunlun Sayadaw richtig lag, obwohl er Buddhas Reden nicht studiert hatte. Zahlreiche Zentren in Burma folgen der Linie seines Ansatz des Vipassanâ (Höheres Sehen). Im folgenden erscheint nun das genannte Meditationsmanual dieses Intuitionsmeisters ("der Praktizierende" oder "er" bedeutet "der praktizierende Mensch"):

Shwedagon-Pagode

Die Shwedagon-Pagode,
höchstes Heiligtum Burmas

 

Einleitende Widmung:

Mit Hochachtung für den Buddha und das Erwachen des Nirvâna,
widme ich, im Einklang mit den Lehren des Weges,
Körper und Geist der Meditationspraxis.
Mögen alle Wesen, hoch oder niedrig, fern oder nah,
inneren Nutzen aus diesem Tun ziehen.

 

Resümee der Methode:

Mit diesen drei Zeilen ist die ganze Sunlun-Methode beschrieben:

Berührung und Bewusstheit, halte diese beiden kontinuierlich im Gespür.
Wo auch immer eine Berührung stattfindet,
dort sei deine ganze Bewusstheit.

 

Die Praxis des Atmens:

Wähle einen geeigneten Platz, setze Dich aufrecht hin
und schließe Augen und Mund.

Ohne Geräuschen nachzugehen,
halte den Geist auf die Nasenspitze gerichtet.
Sei dir achtsam der Berührung der Luft gewahr,
wie sie in dieser Körpergegend ein- und ausströmt.
Mehr ist jetzt nicht zu tun.

Unter allen Öffnungen des Körpers
sind die Naseneingänge das Tor zur Verwirklichung des Erwachens.
Aus diesem Grunde beruht der Weg des Sunlun
auf dem ungeteilten Bewusstwerden der Luft,
wie sie spürbar um die Nasenlöcher herum
ein- und ausfließt.

Je tiefer oder kräftiger das Ein- und Ausatmen wird,
desto merklicher gerät die Berührung.
Je merklicher die Berührung gerät,
desto leichter fällt die Bewusstheit.
Je leichter die Bewusstheit fällt,
desto tiefer geht die Praxis.

In dieser Weise praktiziere kontinuierlich.
Atme mit einer möglichst ungeteilten,
gedankenfreien Bewusstheit ein und aus,
ohne Pause, ohne die Position zu wechseln
und ohne unnötige Bewegungen.
Gehe ganz im schlichten Bewusstwerden der Berührung
des Ein- und Ausatmens auf,
bis zum Ende der Sitzung.

 

Das Wissen im Empfinden selber:

Der Praktizierende beendet nun jene bewusst kräftigere Art
des Ein- und Ausatmens mit einem Zug des Einatmens.
Dann lässt er die Atmung natürlich fließen
und sitzt einfach still da.

Jetzt wird er sich aller momentanen Empfindungen bewusst,
indem er den ganzen Körper innerlich durchwandert.
Dabei nimmt er tief alle Empfindungen wahr,
wie sie ihrem Wesen nach ständig fließen.
Dies geschieht im Herzen.

Es ist leicht gesagt, doch in der Praxis bedeutet dies noch etwas anderes.
Aber wie schwierig es auch immer scheinen mag,
mache dir schlicht die sich ständig wandelnden
Körperempfindungen bewusst.
Halte deinen Körper gelassen aufrecht, ohne unnötige Bewegungen
und ohne dich ablenken zu lassen.

Das große Schlüsselwort zum Verstehen der ganzen Praxis lautet:

"Mache dir jede Körperempfindung lediglich oder genau
so bewusst, wie sie ist."
Dies gilt für alle klaren und subtilen Empfindungen,
wie sie im Körper hervortreten.
Wenn es Schmerz ist, sei dir seiner lediglich oder genau gewahr;
alleine der Empfindung des Schmerzes,
nicht irgendeines Namens dafür.

Ob es sich um ein Gefühl von Schmerz, Krampf, Taubheit,
Hitze oder Kälte handelt:
Bringe dir einfach die jeweilige Tatsache zu Bewusstsein, dass und wie
ein Gefühl nach dem anderen in seiner besonderen Weise beschaffen ist.
In anderen Worten: Nimm alleine die jeweilige Empfindung wahr,
wie sie in dem einen Moment und dann wieder im nächsten Moment ist,
nicht irgend einen Namen dafür.

Mache dir auf diese Weise bewusst, was auch immer gerade geschieht;
dessen Entstehen, und wie es sich während dessen Bestehens anfühlt;
kurz gesagt, in seiner ganz unverschleierten,
tatsächlichen inneren Wirksamkeit.

Erspüre es alles lediglich oder genau so, wie es ist.
Lasse keinen Gedanken von "Ich" und "Mein" dazwischentreten,
nicht einmal den Gedanken vom eigenen "Körper",
und genausowenig irgendeinen Namen für die
jeweils klar werdende Empfindung.

Beherzige einfach:
Kein Nachdenken, keine Konzepte, keine Ideen, keine Bilder.
Denn das Schlüsselwort lautete: "Mache dir die Empfindung lediglich oder genau so bewusst, wie sie ist",
bis allmählich bloß noch das reine Wissen
im unmittelbaren Empfinden selber zurückbleibt.
Kein "Körper", kein "Selbst", keine Reflektion, keine Konzepte:
Bis lediglich das bare Wissen
im Empfinden selber
zurückbleibt.

 

Über das Empfinden hinaus:

Auf diese Weise betrachte mit wachsender Intuition
die fließenden Körperempfindungen.
Verstehe sie "lediglich oder genau so, wie sie sind",
bis bloß noch das bare Wissen
im Empfinden selber
zurückbleibt.

Dann wird schließlich der Zeitpunkt kommen,
wenn die Empfindungen schwinden,
und sich eine umfassende, nicht mehr auswählende
Bewusstheit offenbart.

Nun wirken Verlangen, Ärger, Unruhe, Ängste
oder die Inneren Zwänge nicht mehr.
Nun ist der Geist tief geläutert, frei von einem "Selbst",
stark, tief und geschmeidig.
Nun ist man innerlich fähig, "den Geist zu allem einzusetzen,
wofür man ihn einsetzen will; und ihn von allem abzuwenden,
wovon man ihn abwenden will".

Dies ist eine sehr hohe Verwirklichung.
Aber dieser reiche Fruchtbaum wird erst hervorwachsen,
wenn sein Same gepflanzt und gehegt wird.

Alles weitere hat bloß noch mit dem natürlichen Wachstum
des Baumes zu tun.
Das von alleine hervortretende Erwachen
ist einfach die zwangsläufige Wirkung,
wenn der treffliche Same in einen ergiebigen inneren Boden gesetzt worden ist,
und der Schössling achtsam genährt wird.

Mögen alle Wesen Frieden finden
und ihr Herz öffnen!


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Eigenes Resümee für die praktische Meditation

Sunlun Sayadaw nennt drei Meditationsgebiete, zunächst die formlose Meditation:

Erstes Gebiet: "Wo auch immer eine Berührung stattfindet, dort sei deine ganze Bewusstheit." Diese Aussage bezieht sich auf die allgegenwärtigen Empfindungen, wodurch jede Position, jede Bewegung und jeder Körperbereich, der mit der Umgebung (Boden, Unterlage, Kleidung und Gegenstände), anderen Körperstellen, der Luft, Flüssigkeit oder Temperatur in Kontakt ist, potentiell ungetrennt bzw. nahtlos spürbar werden kann.

Diese "Meditation der Berührung" lässt sich auch gut dahingehend erweitern, dass die "Vier Elemente" Erde, Wasser, Feuer und Luft oder Wind miteinbezogen werden. Im Buddhismus bedeuten sie die reinen Spürqualitäten des Gewichtigen, Festen, Widerständigen oder Sichtbaren "Erde"; Flüssigen, flexibel Zusammenbindenden oder Konturengebenden "Wasser"; Temperierten, Energiegegebenden oder Aufzehrenden "Feuer"; sowie Bewegten "Luft oder Wind". Die Vier Elemente "sind" alles Materielle auf der Ebene unseres direkten Körperempfindens. Es lassen sich hier auch gut die Atemempfindungen, wie sie subtil im ganzen Körper verzweigt wirken, miteinbeziehen. So kommt das Atmen ganz "ins Gespür". Auch die Geschmacksqualitäten gehören zu den Körperempfindungen.

Diese Meditation lässt in den sich ständig wandelnden Augenblicken, wie sie sich gerade anfühlen, bzw. bei sich selbst "ankommen". Damit wird das innere Auge für den letztlich (be)freien(den) Fluss der Sinneserscheinungen geöffnet. Für diese allgemeine, dies heißt in der formalen Sitzung wie unabhängig davon mögliche Praxis ist stets Sunlun Sayadaws Wort zu beherzigen, dass begriffsfrei, intuitiv oder direkt zu betrachten sei, "bis bloß noch das bare Wissen im Empfinden selber zurückbleibt".

 

 

Die zweiteilige formale Meditation:

Zweites Gebiet: Die fokussierte Atembetrachtung im eng begrenzten Gebiet "um die Nasenlöcher herum" in möglichst voller Bewusstheit des Spürens der ein- und ausziehenden Luft. Das Atmen kann zunächst etwas länger oder kräftiger erfolgen, was das Bewusstwerden erleichtert. Die Hauptanweisung Sunlun Sayadaws an dieser Stelle lautet: "Praktiziere kontinuierlich. Gehe ganz im schlichten Bewusstwerden der Berührung des Ein- und Ausatmens auf, bis zum Ende der Sitzung." 

Diese vorbereitende Konzentrationsübung macht unsere Aufmerksamkeit "einspitzig", um die selbsttätigen Affekte, Gedanken oder Assoziationen aus der gewöhnlichen Unbewusstheit aufzulösen.

Drittes Gebiet: Das möglichst unmittelbare, ungetrennte oder nichtdualistische Wahrnehmen der fließenden Körperempfindungen, deren sehendes Umschmiegen in ausfüllender, entlangfließender oder "hineinfindender" Betrachtung (Anupassanâ), also möglichst frei von Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungen, Plänen und Assoziationen, "bis bloß noch das bare Wissen im Empfinden selber zurückbleibt". Mit "Körperempfindungen" ist hier all dasjenige gemeint, was spürbar "am" oder "im" Körperlichen vor sich geht.

In der üblichen Distanz des Bewusstseins von "Ich und Mein" (der letztlich illusionären Trennung eines Subjektes "Ich" hier vom "Selbst" eines "Objektes" dort) wird der leidvolle Schleier der selbsttätigen Affekte, Vorstellungen und Gedanken gestrickt. Mit seiner Praxislehre einer direkt hineinfindenden, befreienden Intuition will Sunlun Sayadaw diese innere Wunde der dualistischen, weltspaltenden Wahrnehmung sanft schließen.


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